Die letzten
Bemerkungen zu den physischen (besser als: physikalischen) Körpern führen zur
Frage, ob es Substanzen gebe, die keine Körper sind. „Physische Körper“,
jedenfalls „materielle Körper“ – das sind eigentlich weiße Schimmel. Sind nun
alle Substanzen Körper? Im Sinne von Aristoteles ist die Frage zu bejahen
(allerdings mit der Einschränkung: innerhalb der uns direkt zugänglichen Welt).
Seelen oder Geistern wird da keine substanzhafte Existenz zugeschrieben, Ideen
natürlich auch nicht. Dennoch gibt es Fälle, die nicht von vorn herein klar
erscheinen. Wir haben uns seinerzeit gefragt, ob die Tragödie als Substanz
gelten kann, also eine individuelle Tragödie wie Antigone von
Sophokles als ein Wesen im vollen Sinn des Wortes gelten kann. Wenn ja,
schließt sich nun die Frage an, ob sie denn ein Körper ist, ob sie ein
körperliches, materielles Wesen ist. Ein natürliches Wesen ist sie – natürlich
– nicht. Künstliche materielle Entitäten gibt es zweifellos – sie sind aus
Bronze oder aus Mehl oder so weiter. Aus was ist die Tragödie? Kapitel 21 und
22 der Poetik geben darauf die Antwort: aus Sprache (die akustisch oder
optisch erscheint). Also können Tragödien als artifizielle materielle
Substanzen aufgefaßt werden.
Die für
materielle Entitäten zuständige Wissenschaft ist die „Physik“ – in dem weiten
Sinn, den das Wort bei Aristoteles hat. Obwohl die Poetik zu den
poietischen Wissenschaften gehört, hat sie auch Aspekte von Physik.
Wenn alle
Substanzen Körper sind, ist die Grundwissenschaft von den Substanzen die
Physik. Wie die oben genannten Beispiele zeigen, gehören dazu auch so etwas wie
die Mutter oder der christliche Gott (dies betont ausdrücklich Jacques Lacan im
Abschnitt 4 des Kapitels „Barock“ im Seminar XX). Selbstverständlich auch
solche Körper wie die Himmelskörper (von denen einige laut Aristoteles ans
Göttliche heranreichen).
1016b 31ff.
wiederholt noch einmal die verschiedenen Begründungen dafür, dass mehrere
Entitäten als Eines gelten können.
„Viele“ kann
es geben aufgrund von (räumlicher oder zeitlicher) Diskontinuität oder
Stoffzerlegung oder Artenvielfalt.
Der nächste
Abschnitt gilt dem Grundwort der Ontologie: dem Seienden. Die berühmte
Erklärung in 1003a 33 „to on legetai pollachos“, die anschließend in einer über
die Kategorien hinausgehenden Weise expliziert wird, wird jetzt mit einer
bipolaren Erklärung aufgenommen: das Seiende wird akzidenziell ausgesagt oder
„an sich“, was wohl heißt: akzidenziell oder substanziell (essenziell,
wesenhaft). Und es folgt eine Kaskade von vielen einander teilweise
wiederholenden, aneinander anschließenden, sich miteinander verkettenden sehr
knappen Beispielssätzen, von ungefähr siebzehn Beispielssätzen, in denen nur
ungefähr acht Bestimmungen als Subjekte beziehungsweise Prädikate fungieren:
Gerechter ist
musisch
Mensch ist
musisch
Musischer baut
Baumeister ist
musisch
Musischer ist
Baumeister
dies ist dies
dies kommt
diesem zu
Mensch ist
musisch
Musischer ist
Mensch
Weißer ist
musisch
Musischer ist
weiß
Nicht-Weißes
ist
sein Substrat
ist
..........
Alle diese
Aussagen sagen laut Aristoteles Akzidenzielles aus, nämlich einem Subjekt oder
Substrat zu; sogar Aussage 9. Ein Vorblick auf die „An-sich-Aussagen“ erweckt
den Eindruck, dass auch dort die Akzidenzien-Zusprechungen überwiegen.
Invasion der
Akzidenzien?
Walter Seitter
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Sitzung vom 22. April 2015
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