War „das
Seiende“ der transkategoriale Gegenstand der im Buch IV sozusagen begründeten
Ontologie sowie des letzten Abschnittes, wird nun die ousia, also die
erste Kategorie (und deren Signifikat) zum Thema.
Welche
Entitäten können als ousiai gelten? Sind es etwa sogenannte
„metaphysische“? Aristoteles’ Antwort ist klipp und klar: es sind in erster
Linie physische. Es sind die Körper, die das Gegenstandsfeld der Physik
ausmachen. Als ich mich am 22. April zur These durchrang, die uns bekannten
Substanzen oder Wesen seien die Körper, wusste ich nicht von der jetzt
gelesenen Stelle 1017b 10ff., wo Aristoteles den Umfang des Begriffs „Substanz“
mit der Körperwelt identifiziert (die er allerdings nicht ganz eng fasst).
Zuerst nennt er die Elemente, also die Grundstoffe Erde, Wasser usw. Dann die
empirisch vorkommenden Körper anorganischer Art, dann die daraus bestehenden
Lebewesen, zu denen auch die nicht extra erwähnten Menschen gehören, sowie die
erwähnten göttlichen Dinge (gemeint sind Himmelskörper). Göttlichkeit und
Körperlichkeit schließen sich also nicht aus. Substanzialität und
Körperlichkeit schließen sich geradezu ein. Was nicht heißt, dass die beiden
Begriffe Synonyme sind. Sie liegen auf unterschiedlicher Ebene. „Körper“ ist
ein physikalischer Begriff (und er bleibt das mindestens bis Newton). Bezieht
man die Elemente Feuer bzw. Licht sowie Äther ein, bleibt er es wohl bis heute.
„Substanz“ ist ein logisch-ontologischer Begriff. Weil die Physik bei
Aristoteles eine Basis-Wissenschaft ist, bekommt seine Ontologie eine ziemlich
„materialistische“ Schlagseite. Die anderen Basis-Wissenschaften wie Ethik und
Politik haben es mit den Menschen zu tun – die ebenfalls „Lebewesen“ und
„Körper“ sind.
Jedenfalls
wird der Substanz-Begriff ordentlich entmystifiziert – und das entspricht genau
dem Duktus, dem diese Aristoteles-Lektüre folgt.
Für uns nicht
leicht nachvollziehbar die Feststellung, auch die Teile, ja die Teilchen der
Körper, seien Substanzen. Daß sie zu der jeweiligen Substanz des ganzen Körpers
gehören, macht keine Schwierigkeit: in diesem Sinn haben wir ja die Muttermilch
zur Mutter-Substanz gerechnet. Aber dass die Teile als Teile selber
gleichberechtigte Substanzen sind? Wo sie doch eher nicht selbständig
existieren können. Beim Apfel ist die Sache wiederum verständlich. Wenn er vom
Baum getrennt ist, kann er als Ding einen guten Eindruck machen. Und da er
Samen enthält, ist er der Möglichkeit nach bereits ein neuer Apfelbaum (oder
sogar mehrere Apfelbäume).
Als nächstes
wird ein ganz anderes Kriterium für „Substanz“ genannt: ein rein logisches, das
aus der Linguistik bzw. Grammatik stammt: Substanz ist, was in einem Satz an
der Subjekt-Stelle steht – denn vom Subjekt wird etwas (das Prädikat)
ausgesagt. Ein schöner theologischer (theographischer) Satz von Karl Kraus
verdeutlicht das, indem er gegen die aristotelische Regel verstößt: „O Gott,
was bist du für ein Shakespeare!“ „Shakespeare“ wird hier „fälschlicherweise“
als Prädikat eingesetzt, obwohl der Name eine Substanz bezeichnet.
Danach ein
anderer tropos, eine anderer Aspekt von Substanz: nämlich die innere
Ursache der genannten Substanzen: und zwar die Formursache der Körper. Die
Formursache, welche die Artbestimmtheit, das Sosein, die Wesenheit der
existierenden Wesen meint. Näherhin greift Aristoteles auf die Lebewesen zurück
und bei denen heißt die Formursache „Seele“.
Damit hat
Aristoteles die beiden Versionen der ousia mit Begriffen der
Umgangssprache benannt: Körper und Seele. Genauer: Lebewesen und Seele. Die
Seele stellt keinen Gegensatz zum Körper dar. Sie existiert ja nicht extra,
sondern sie qualifiziert, spezifiziert den Körper zu dem, was er jeweils ist:
eine Blume, ein Schmetterling oder ein Hund.
Die beiden
Versionen der Substanz können wir also exemplifizieren mit: Lebewesen, Seele.
Und die Körper, denen wir kein Leben zusprechen, also der Mond oder ein Tisch –
auch sie haben ihre Quasi-Seele namens morphe, eidos, energeia, entelecheia.
Begriffe, die doch einigermaßen an „Seele“ heranreichen.
Walter Seitter
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Sitzung vom 13. Mai 2015
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