τὸ μὲν οὖν αἰσθάνεσθαι ὅμοιον τῷ ... νοεῖν.

Das Wahrnehmen nun ist ähnlich dem ... vernünftigen Erfassen.

Aristoteles (De Anima III, 7: 431a)

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Donnerstag, 14. Mai 2015

In der Metaphysik lesen (1017b 10 – 16)

War „das Seiende“ der transkategoriale Gegenstand der im Buch IV sozusagen begründeten Ontologie sowie des letzten Abschnittes, wird nun die ousia, also die erste Kategorie (und deren Signifikat) zum Thema.

Welche Entitäten können als ousiai gelten? Sind es etwa sogenannte „metaphysische“? Aristoteles’ Antwort ist klipp und klar: es sind in erster Linie physische. Es sind die Körper, die das Gegenstandsfeld der Physik ausmachen. Als ich mich am 22. April zur These durchrang, die uns bekannten Substanzen oder Wesen seien die Körper, wusste ich nicht von der jetzt gelesenen Stelle 1017b 10ff., wo Aristoteles den Umfang des Begriffs „Substanz“ mit der Körperwelt identifiziert (die er allerdings nicht ganz eng fasst). Zuerst nennt er die Elemente, also die Grundstoffe Erde, Wasser usw. Dann die empirisch vorkommenden Körper anorganischer Art, dann die daraus bestehenden Lebewesen, zu denen auch die nicht extra erwähnten Menschen gehören, sowie die erwähnten göttlichen Dinge (gemeint sind Himmelskörper). Göttlichkeit und Körperlichkeit schließen sich also nicht aus. Substanzialität und Körperlichkeit schließen sich geradezu ein. Was nicht heißt, dass die beiden Begriffe Synonyme sind. Sie liegen auf unterschiedlicher Ebene. „Körper“ ist ein physikalischer Begriff (und er bleibt das mindestens bis Newton). Bezieht man die Elemente Feuer bzw. Licht sowie Äther ein, bleibt er es wohl bis heute. „Substanz“ ist ein logisch-ontologischer Begriff. Weil die Physik bei Aristoteles eine Basis-Wissenschaft ist, bekommt seine Ontologie eine ziemlich „materialistische“ Schlagseite. Die anderen Basis-Wissenschaften wie Ethik und Politik haben es mit den Menschen zu tun – die ebenfalls „Lebewesen“ und „Körper“ sind.

Jedenfalls wird der Substanz-Begriff ordentlich entmystifiziert – und das entspricht genau dem Duktus, dem diese Aristoteles-Lektüre folgt.

Für uns nicht leicht nachvollziehbar die Feststellung, auch die Teile, ja die Teilchen der Körper, seien Substanzen. Daß sie zu der jeweiligen Substanz des ganzen Körpers gehören, macht keine Schwierigkeit: in diesem Sinn haben wir ja die Muttermilch zur Mutter-Substanz gerechnet. Aber dass die Teile als Teile selber gleichberechtigte Substanzen sind? Wo sie doch eher nicht selbständig existieren können. Beim Apfel ist die Sache wiederum verständlich. Wenn er vom Baum getrennt ist, kann er als Ding einen guten Eindruck machen. Und da er Samen enthält, ist er der Möglichkeit nach bereits ein neuer Apfelbaum (oder sogar mehrere Apfelbäume).

Als nächstes wird ein ganz anderes Kriterium für „Substanz“ genannt: ein rein logisches, das aus der Linguistik bzw. Grammatik stammt: Substanz ist, was in einem Satz an der Subjekt-Stelle steht – denn vom Subjekt wird etwas (das Prädikat) ausgesagt. Ein schöner theologischer (theographischer) Satz von Karl Kraus verdeutlicht das, indem er gegen die aristotelische Regel verstößt: „O Gott, was bist du für ein Shakespeare!“ „Shakespeare“ wird hier „fälschlicherweise“ als Prädikat eingesetzt, obwohl der Name eine Substanz bezeichnet.

Danach ein anderer tropos, eine anderer Aspekt von Substanz: nämlich die innere Ursache der genannten Substanzen: und zwar die Formursache der Körper. Die Formursache, welche die Artbestimmtheit, das Sosein, die Wesenheit der existierenden Wesen meint. Näherhin greift Aristoteles auf die Lebewesen zurück und bei denen heißt die Formursache „Seele“.

Damit hat Aristoteles die beiden Versionen der ousia mit Begriffen der Umgangssprache benannt: Körper und Seele. Genauer: Lebewesen und Seele. Die Seele stellt keinen Gegensatz zum Körper dar. Sie existiert ja nicht extra, sondern sie qualifiziert, spezifiziert den Körper zu dem, was er jeweils ist: eine Blume, ein Schmetterling oder ein Hund.
Die beiden Versionen der Substanz können wir also exemplifizieren mit: Lebewesen, Seele. Und die Körper, denen wir kein Leben zusprechen, also der Mond oder ein Tisch – auch sie haben ihre Quasi-Seele namens morphe, eidos, energeia, entelecheia. Begriffe, die doch einigermaßen an „Seele“ heranreichen.

Walter Seitter


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Sitzung vom 13. Mai 2015 

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