Das Frühere
und Spätere – jedoch nicht nur in zeitlicher, sondern auch in mehreren anderen
Hinsichten: örtlich, bewegungsmäßig, rangmäßig, machtmäßig, erkenntnismäßig,
seinsmäßig .... Also das Frühere, Ehere, das Nähere, das Grundlegendere, das
Primäre, das Anfänglichere. Alle diese Komparative, deren Bezugspunkt vom
ersten Stichwort dieses „Wörterbuches“ bezeichnet wird: arche. Die
beiden modernen Formeln „a priori“ und „a posteriori“ sind (mit falschem
Latein) als Übersetzungen von proteron und hysteron in die
moderne Philosophiesprache eingeführt worden.
In der
zeitlichen Hinsicht bedeutet dieses Primäre immer das Frühere und doch gibt
Aristoteles zwei verschiedene Bezugspunkte an – je nachdem, ob es sich um
mehrere vergangene Ereignisse handelt oder um künftige. Während die vergangenen
an einem unbestimmten Uranfang (?) gemessen werden, werden die zukünftigen vom
Jetzt des Sprechens an gerechnet. Die beiden Bezugspunkte unterscheiden sich so
ähnlich wie die beiden im Protokoll vom 1. Juli genannten, welche im Raum
angesiedelt waren. Sie verstärken den Eindruck, dass Aristoteles keine
Schwierigkeit damit hat, innerhalb einer Fragestellung von einem Bezugspunkt
auf einen ganz anderen umzuschalten. Flexibilität.
Ein Halbsatz,
ein kausaler Nebensatz, noch dazu ein elliptischer, denn es fehlt das estin,
verdient Aufmerksamkeit: epei de to einai pollachos (1019a 5). Er
variiert die häufiger vorkommende Wendung to on legetai pollachos, die
wir auch im Buch IV angetroffen haben (1003 33), einfach durch die Einsetzung
des Infinitivs Präsens für das Partizip Präsens.
Meine
Wahrnehmung folgt offensichtlich derjenigen von Martin Heidegger, die mir jetzt
durch ein älteres Buch von Jean Greisch bekannt wird, wo angedeutet wird, dass
Heidegger, dem die Sache mit dem on pollachos legomenon längst bekannt
war, durch das einai pollachos den „Schock einer initialen Begegnung“
erfahren habe.[1]
Es scheint,
dass diese Formulierung bei Aristoteles selber ohne große Absicht gewählt
worden ist. Nichts deutet darauf hin, dass er – wie dann Heidegger – aus dem
Unterschied zwischen dem on und dem einai eine sogenannte
„ontologische Differenz“ machen wollte.
Heidegger hat
mit der „ontologischen Differenz“ einen „höheren Standpunkt“ (im Sinne Hegels)
gewinnen wollen, den er mit Antisemitismus aufgeladen hat, welchen er sogar
gegen seinen Lehrer Husserl gerichtet hat. Auf Husserl ist nämlich der Satz in
den Schwarzen Heften gemünzt: „Der Angriff gründet einen geschichtlichen
Augenblick der höchsten Entscheidung zwischen dem Vorrang des Seienden und der
Gründung der Wahrheit des Seyns.“[2]
Husserl und die Juden werden dem „Vorrang des Seienden“ zugerechnet.
Gegenüber
einer so verstandenen „ontologischen Differenz“ handelt es sich bei
Aristoteles um eine „ontologische Multiplizität“, innerhalb derer dem Wesen
viele andere Seinsmodalitäten hinzugefügt werden, welche sich nicht auf die
Akzidenzien beschränken. Zu denen kommen dann noch die fünf „Postprädikamente“
sowie die diversen Modalitäten, die im Buch IV genannt werden (1003b 7ff.) – im
Buch V werden sie einzeln angeführt und erläutert. Vom Wesen gibt es zwei
Versionen und die übrigen Modalitäten vermehren sich sozusagen jedes Mal, wenn
Aristoteles auf das Thema zu sprechen kommt. Insofern hat Kant nicht ganz
unrecht, wenn er in der Kritik der reinen Vernunft die aristotelische
Kategorienaufstellung als „rhapsodistisch“ kritisiert. Mein Lehrer Max Müller
(München) hat Aristoteles eben deswegen gelobt.
Walter Seitter
Sitzung vom 7. Oktober 2015
Postskriptum:
Euripides-Tagung
an der Universität Wien
Marietta-Blau-Saal
Donnerstag 15.
Oktober, 15.15–16.00
Stefan
Büttner: Euripides – Tragischster aller Dichter oder Zerstörer der Tragödie?
Samstag 17.
Oktober, 11-12.30
Arbogast
Schmitt: Nietzsche contra Euripidem et Socratem
Über den
Verstand als Totengräber der Kunst
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