Erinnerung an
die Lektüre des Kapitels über Vermögen (Fähigkeit), Möglichkeit, vermögend
(fähig, könnend), unvermögend (unfähig), unmöglich.
Ob nun
substantivisch oder adjektivisch, positiv oder negativ, diese Ausdrücke
umfassen eine beträchtliche Spannweite. Während „möglich“ als passive oder
logische Qualität, einen ziemlich niedrigen Wirklichkeitsgrad bezeichnet und
vielleicht von Aristoteles eingeführt worden ist, um so eine Stufe nicht
einfach dem Unwirklichen (me on) zuschlagen zu müssen, bezeichnet die
aktive Fähigkeit eine relative hohe Wirklichkeitsstufe, die man eigentlich nur
beseelten, also Lebewesen, zuzusprechen geneigt ist. Der Ausdruck dynamis wird
auch schon vor Aristoteles gebräuchlich gewesen sein, in der Alltagssprache
oder in der politischen Sprache (wo allerdings dynasteia ein
eingeführter Begriff war)[1].
Indessen legt Aristoteles Wert darauf, zu betonen, dass die aktive Fähigkeit
auch unbeseelten Wesen zukomme: denn eine Leier könne tönen (1019b 16). Auch
mit diesem Beispiel unterstreicht Aristoteles seine Bereitschaft, dem Geringen
seine Aufmerksamkeit zuzuwenden. Und nicht etwa nur dem sogenannten
„Dynamischen“ und „Dynastischen“, dem Mächtigen und dem Übermächtigen – wie
dies etwa die Göttergeschichten und die Heldenverehrungen, die
Kriegsgeschichten und die Siegerehrungen getan haben mögen.[2]
Hoher oder
niedriger Wirklichkeitsgrad. Hat dieser Unterschied etwas mit der Ontologie,
also mit der Lehre von den Seinsmodalitäten, zu tun? Wenn ja, müsste er auch an
anderen Seinsmodalitäten anzutreffen sein. Und das ist auch der Fall: denn die
Differenz zwischen Substanz und Akzidenzien hat gerade deswegen einen
„hierarchischen“ Charakter, weil der Substanz mehr Wirklichkeit (Seiendheit) zukommt
als den Akzidenzien: hier steht die Differenz zwischen „selbständig“ und
„abhängig“ im Vordergrund. Innerhalb der in Met. 1003b 7f. genannten
Seinsmodalitäten wird man wohl der Privation oder der Zerstörung weniger
Wirklichkeit zusprechen als der Qualität oder der Erzeugung. Gibt es auch
innerhalb der Akzidenzien Rangunterschiede, die ein „wirklicher“ oder „weniger
wirklich“ bedeuten?
Etwa zwischen
Qualität und Quantität? Diese Frage haben wir angeschnitten, als wir zum
Kapitel 13 übergingen, das der Quantität gewidmet ist.
In der
europäischen Neuzeit setzte sich ein Unterscheidungsprozeß durch, der die eher
quantitativen Sinnesqualitäten wie Größe, Figur, Bewegung/Ruhe als „primäre“
bezeichnete, weil sie den Körpern wirklich und sogar notwendig zukommen,
während die „sekundären“ wie Farbe, Temperatur, süß/sauer eher dem
Wahrnehmungsapparat zugeschrieben werden und daher beinahe als Täuschungen
gelten müssen. So nach John Locke: An Essay Concerning Humane Understanding
(London 1690). Die überwiegend mathematisch vorgehenden Naturwissenschaften
verfestigten die Vorstellung vom höheren Wirklichkeitscharakter der Quantität
bis hin in die Sozialwissenschaften, Medizin, Unterrichtssysteme und so weiter.
Allerdings blieben die Reaktionen nicht aus: Romantik, Geisteswissenschaften
(die sich heute Kulturwissenschaften nennen), Esoterik, Zivilisationskritik
haben bei vielen Menschen eine Gegenhaltung entstehen lassen, die so weit geht,
dass sogar der Begriff der Qualität eine Verbiegung erfahren hat und „Qualität“
mit „Gutheit“ gleichgesetzt wird – anstatt eine neutrale Kategorie zu sein. Und
„Quantität“ mit Technokratie, Banalität ...
Bei
Aristoteles herrscht sachliche Nüchternheit – keine technokratische Vergötzung
der Quantität, keine sentimentale Verfälschung des Begriffes „Qualität“.
Die Quantität
erfährt eine durchgehende Zweiteilung: messbar oder zählbar, stetig oder
diskret, in der Sprache des 20. Jahrhundert: analog oder digital.
Walter Seitter
Sitzung vom 21. Oktober 2015
Postskriptum
[1]
Auf
den scheint Foucault zurückzugreifen, wenn er die Analyse eines Sachverhalts
unter dem Machtgesichtspunkt als „Dynastik“ bezeichnet. Siehe Michel Foucault: Théorie
et institutions pénales. Cours au Collège de France. 1971-1972 (Paris
2015). 215.
[2]
Bekanntlich
gingen Foucaults Machtanalysen dann doch in die Richtung, nicht die
Übermachtbildungen sondern die feinen Machtverteilungen, auch die passiven
Machtmodalitäten in den Blick zu nehmen: Mikrophysik der Macht. Insofern eine
gewisse wenngleich weit hergeholte Entsprechung zur hiesigen aristotelischen
„Machtanalyse“ - ?
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