Lieber Walter,
hier Angemerktes zu Buch VII.6:
Der Lehrer fragt: »Wieviel sind drei Äpfel und zwei Äpfel?« Wenn
nun seine Schüler keine Antwort geben, sondern allerlei Gegenfragen stellen,
was tut er dann? »Sind es grüne oder rote Äpfel? Sind es gegessene Äpfel? Muss
man die erst pflücken? Was, wenn zwei davon Birnen sind? Die
Fruchtsaft-Industrie ist doch bekannt dafür, dass sie schlechte Löhne zahlt...«
Wenn sich die Diskussion in dieser Weise entwickelt und immer weiter von der
gestellten Aufgabe entfernt, wird der Lehrer mal mahnend eingreifen müssen, und
sagen »Bitte, es geht hier nicht um die Äpfel als solche! Ihr könnt auch Steine
oder Ziegel nehmen. Drei Steine und zwei Steine sind wieviel? Wer weiss das?«
Genauso verhält es sich mit dem Beispiel des
»Weisser-Mensch-Sein« im Vergleich zum »Mensch-Sein« in den Substanzbüchern.
Wer da über Rassismus diskutieren will, über Anthropozentrik oder die
Sonnenbrillen der Griechen, verlässt leichtfertig das Textverständnis,
verweigert sich dem Gesagten. Der Text wird auf eine Weise zum Sprechen
gebracht, die ein hemmungsloses Gerede zur Folge hat, das zu nichts führt. Wer mit dem zweifellos
Mitgesagten des beispielhaften Objekts »Weisser-Mensch« nicht klarkommt, der
ersetze es einfach durch etwas Ähnliches. Ein »Afrikanischer-Elefant-Sein« und
das »Elefant-Sein« erfüllen denselben Zweck, nämlich ein Spezialproblem der
Begriffsbestimmung des TEE anschaulich zu machen. Oder eine
»Ramponierte-Raumfähre-Sein« und das »Raumfähren-Sein«. Was auch immer.
Aristoteles' schwieriger Begriff des TEE (das Wesen-Was, das Wesen der
Sache) führt zu einem logischen Regressproblem. Ist das TEE selbst ein Wesen,
wenn man es von seinem Ding abtrennen kann? Besitzt es ein substanzielles Sein
wie Platons Idee? Aristoteles lässt die Antwort darauf offen und macht damit
das TEE zu einem schwachen Kandidaten für das Substrat. Man könnte auch sagen,
ja: das Wesen-Was eines Elefanten existiert durchaus auch unabhängig von seiner
Klassifikation als indisch oder afrikanisch, unabhängig von seinen
Eigenschaften wild oder zahm zu sein, die Definitionsleistung des TEE, die das
Ding mit einer Kategorie aus der wissenschaftlichen Systematik und mit
Eigenschaften aus den Seinsmodalitäten verbindet, führt ein begriffliches
Eigenleben jenseits der konkreten Tierwelt, ohne aber aus einem Elefanten je
mehr als ein abstraktes Elefant-Sein machen zu können. Was sich hier schlagend
einstellt, ist das Bewusstsein, dass es die Sprache ist, die das Substrat zum
Ausdruck bringt, nicht die Person, die darum ringt.
My best
w.
––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––
In der
Metaphysik lesen (BUCH VII (Z), 1031a 29 – 1031b 2)
Eingangs erinnere ich an eine Unterscheidung, die
ich im Laufe der letzten Jahre vorgeschlagen habe, um das, was in diesem Buch
gesagt wird, besser ordnen zu können.
Die Ontologie beschäftigt sich mit Seinsmodalitäten,
die formale Aspekte sein sollen, welche sich durch die gesamte Realität
durchziehen. Sie sind von Aristoteles unter der Bezeichnung „Kategorien“
gesammelt worden, dann aber durch solche Bestimmungen wie „Entstehen“,
„Vergehen“, „Akt“, „Potenz“ ergänzt worden; neulich hat er auch die „Bewegung“
dazu genannt. Die wichtigsten sind für ihn das „Wesen“ und die neun
Akzidenzien.
Hingegen sind die Realitätssorten Gegenstand
der normalen Wissenschaften wie Physik, Ethik, Poetik. Solche Realitäten sind
die Körper mitsamt den Seelen, etwa die Tiere. Und die Menschen. Sowie die
menschengemachten Sachen wie Kunstwerke, Staaten. Und deren Eigenschaften und
Tätigkeiten. Die Begriffe „Eigenschaft“ und „Tätigkeit“ sind jedoch Kategorien
und bezeichnen Seinsmodalitäten.
Wohlgemerkt, das ist eine Art Meta-Unterscheidung, eine
von mir gemachte. Die beiden Ebenen lassen sich unterscheiden – aber nicht
trennen. Im Buch VII geht es zunächst um die Seinsmodalität „Wesen“ mit
ihren zwei Aspekten, dann mit ihrem Verhältnis zu den Akzidenzien. Nun aber
stellt Aristoteles eine Hypothese vor, derzufolge bei den Wesen das Was-ist und
das Das-da voneinander getrennt sind.
Das ist die platonische Hypothese und laut Aristoteles lautet
sie so: es gibt irgendwelche Dinge nämlich „frühere Wesen oder Naturen namens
Ideen“, denen Wesen nicht zukommt, sodaß von ihnen Wissenschaft nicht möglich
ist, und andererseits gibt es Wesen, die gar nicht sind. Also Dinge ohne
Wesen und Wesen ohne Sein. Und in diesem Auseinanderklaffen stehen einander
gegenüber: das Gute selbst und das Gut-sein, das Lebewesen und das
Lebewesen-sein, das Seiend-sein und das Seiende.
Diese drei paradoxen Entitäten, das Gute, das Lebewesen,
das Seiende, sind die platonische Erfindung. Auch bei Aristoteles ist das
Lebewesen der Prototyp des Wesens – andere Wesen sind die einfachen Körper oder
die Himmelskörper (oder der Gott). Bei Platon sind dem Lebewesen das Gute und
das Seiende parallelgeschaltet – während bei Aristoteles „gut“ eine Eigenschaft
ist und „seiend“ etwas Flexibles, das als Wesen oder als Eigenschaft oder als
Relation .... auftritt. Die drei platonischen „Wesen“ (es gibt noch mehr davon)
sind jeweils total auseinandergerissen zwischen Wesen und Sein. Aristotelische
Wesen sind jeweils die Koinzidenz von Was-ist und Das-da.
So erscheint hier der Unterschied zwischen platonischer
und aristotelischer Ontologie. Wir sind auf diesen Unterschied schon öfter zu
sprechen gekommen und haben ihn anders formuliert: Stufenontologie bei Platon:
Urbild und Abbild; Kompositionsontologie bei Aristoteles: Individuum aus Form
und Materie.
Walter Seitter
Sitzung vom 22. November 2017
Nächste Sitzung am 29. November 2017
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