τὸ μὲν οὖν αἰσθάνεσθαι ὅμοιον τῷ ... νοεῖν.

Das Wahrnehmen nun ist ähnlich dem ... vernünftigen Erfassen.

Aristoteles (De Anima III, 7: 431a)

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Mittwoch, 14. April 2021

In der Metaphysik lesen (1072a 3 – 18)

 Die hier gesuchten superlativischen Ursachen, also die ursächlichsten Ursachen, bezeichnet Aristoteles nicht als die „letzten“ Ursachen – auch wenn sie von uns aus gesehen am weitesten entfernt scheinen und den Suchenden erst nach langem Herumsuchen, -fragen und –überlegen (wenn überhaupt) zu Gesicht oder zu Einsicht kommen. Sondern als die „ersten“ weil anfänglichsten oder ursprünglichsten. 

Die Suchrichtung, die Aristoteles hier einschlägt, ist eine ganz bestimmte, durch seine Realitätsauffassung vorgegebene und zwar in der Hinsicht, dass er jetzt gar nicht nach allen Ursachen fragt und auch nicht nach einer ersten Gesamtursache, sondern nur nach einer ersten Wirk- oder Bewegursache, während die anderen Ursachensorten (die sich auf Stoff und Form und Zweck beziehen), gar nicht, jedenfalls vorläufig nicht, im Suchfeld stehen. 

Das Präfix „ur“, das mit der Präposition „aus“ nicht nur irgendwie etymologisch verwandt ist, sondern wohl gar als eine „Urform“, als eine „Vorfahrin“ von „aus“ zu betrachten ist, hat bekanntlich vor sehr kurzer Zeit in der (menschengemachten) Kosmologie eine Neuauflage erfahren – nämlich mit der Theorie vom „Urknall“, der eine Art Bewegung, nämlich Anfangsbewegung oder Bewegungsanfang, gewesen sein soll, der insofern in dieser Aristoteles-Lektüre immerhin genannt werden darf. Und das schon ältere Wort „Ursprung“, das von manchen Aristoteles-Übersetzern anstatt von „Prinzip“ für arche eingesetzt wird, kann hier noch einmal extra genannt werden, zumal da es ebenfalls so etwas wie Anfangsbewegung oder Bewegungsanfang suggeriert. 

In dem terminologisch konzentrierten, dicht zusammengeballten, spannungsgeladenen Satz 1071b 20, der sagt, es „muß ein solches Prinzip sein, dessen Wesen Verwirklichung ist“, womit das Prinzip durch Verwirklichung oder Tätigkeit „definiert“ wird, da wird das „Prinzip“ aus seiner terminologischen soll ich sagen Ewigkeit oder Trägheit oder Langweiligkeit geradezu aufgescheucht, es wird ihm wie man sagt die Hölle heiß gemacht, damit es endlich oder wieder zu der Entschiedenheit, Initiativ- und Impulskraft findet, die Aristoteles hier im Sinn hat und die in den griechischen Wörtern archein und arche mit der Komposition aus Vokal und Konsonant(en) eine minimale und insofern anfängliche, eine archaische oder primitive Verwandtschaft mit dem ur aufweist. Ausgang, Anfang, Vorangehen und Herrschaft, die ja auch im Deutschen weder hier noch überall Sache des männlichen Geschlechts sind. Denn „Herr“ ist keine Geschlechtsbezeichnung, ebensowenig wie „Frau“, die beide von geschlechterneutralen Führerbezeichnungen stammen, die sich dann auch noch ins Adjektivische verzweigen und die sehr positiven Eigenschaften „herrlich“ und „fröhlich“ hervorgebracht haben. 

Wenn in dem wiederholten Satz die Verwirklichung, die das Wesen des Prinzips sein soll, auf dieses herrscherlich zurückwirkt, so bekommt es den Namen „Ursprung“.  

So viel Wörterarchäologie und –ästhetik muß sein. Wenn nicht Müdigkeit und Entropie der Suchbewegung ein vorzeitiges Ende aufzwingen sollen. Wer suchet, der findet – vielleicht schon unterwegs. 

Die Suche nach den ersten Bewegursachen hat mit der Nennung von letzten oder nächsten Ursachen – zunächst des Menschen – begonnen. Da werden also Vater und Mutter genannt. Ein ander Mal wird dem Vater eine schon viel weiter entfernte Ursache hinzugefügt – und zwar wieder eine zweifache: Sonne und schräge Kreisbahn (welche dafür sorgt, dass die Sonne, die doch eine ist, gar nicht einfach sondern vielfach erscheint und vielmals sogar nicht erscheint oder sagen wir: fast nicht). 

 

[Hier liegt der Punkt, genauer gesagt der „Doppelpunkt“, an dem sich dieses berühmte Buch kurz vor seinem „Höhepunkt“ mit einem anderen und zwar sehr anderen Werk kreuzt und trifft, welches die Sonne in seinen Titel setzt (um sie angeblich doch zum Untergehen zu zwingen). Dieses andere Werk ist hier schon einmal in einer Fußnote genannt worden und wird noch öfter in dieses Protokoll aufgenommen werden. Zu frappant sind doch die mit massiven Gegensätzlichkeiten kontrastierenden Berührungen, die noch ungeplanter sind als jene. So wie die aristotelische Metaphysik ist auch die Sonne von Francis Ponge im Laufe von über zwanzig Jahren entworfen, hingeworfen, hingeschrieben, umgeschrieben, neugeschrieben, weitergeschrieben worden und erst Jahrzehnte (beziehungsweise Jahrhunderte) nach dem Tod des ersten Autors redigiert, tituliert worden, wobei die Sonne dann gleich zweifach nämlich zusätzlich in einer anderen Sprache erschienen ist – womit sie die viele Jahrhunderte währende Vielsprachigkeit der Metaphysik in komprimierter Form nachstellt. Welche Vielsprachigkeit – wie auch hier – zu einer weltweiten und nicht enden wollend wachsenden Bibliothek akkumuliert wird.

Die materielle, geschichtliche, performative Duplizität von Metaphysik und Sonne überschneidet sich mit einer thematischen Kreuzung und Gegenläufigkeit, die erst später überblickt werden kann.]

 

Sodann stellt Aristoteles zwei durchaus unterschiedene Bewegursachen (aller Dinge) in einer Etage zusammen, und verwehrt ihnen den Titel von Erstursachen: Seele und Himmel (1072a 2). 

 

Um in Richtung Erstursachen weiterzukommen, erinnert Aristoteles daran, was im Buch IX dargetan worden ist, dass nämlich Vermögen einerseits häufig und erfahrbar den Verwirklichungen vorausgehen (beispielsweise habe ich jetzt das Vermögen zu einem abendlichen Essen – hoffentlich). Auf einer anderen Ebene habe ich dieses Vermögen nur, weil ich schon oft und oft so etwas wie ein Abendessen durchgeführt oder geleistet habe. Aristoteles aber verweist zur Begründung seiner These (die in Richtung Maximalontologie geht) auf Anaxagoras, der die Vernunft als Tätigkeit bezeichnet hat – also als Vernunfttätigkeit (noesis); auf Empedokles, der Freundschaft und Haß als Ursachen ansetzt, womit er wohl doch seelische „Regungen“ gemeint hat; auf Leukipp mit seiner Lehre von der Bewegung der Atome. 

 

Danach hat es also Chaos oder Nacht nicht unbegrenzte Zeit hindurch gegeben sondern immerzu eine Bewegung. Etwa in der Form eines Kreislaufs, in dem es etwas Bleibendes gibt, das gleichförmig tätig ist. (Das panta rhei des Heraklit wird also durch so etwas wie ein Ufer limitiert, dessen Existenz selber in einer gewissen Tätigkeit besteht.) 

Der Erfahrung näher aber ist die Annahme, dass es Werden und Vergehen gibt, und dann muß etwas einmal so und einmal anderswie tätig sein. 

 

Und diese unterschiedlichen Tätigkeitsweisen differenziert Aristoteles wie ich meine relativ „modern“ als Tätigkeit im Hinblick auf sich selber und Tätigkeit im Hinblick auf anderes: also „reflexive“ und „objektive“ (oder „transitive“) Tätigkeit (dass einige Moderne die reflexive Tätigkeit zu einer sogenannten „transzendentalen“ hinaufstilisiert haben, verdient nur eine Klammererwähnung). 

Sich zu sich selber und zu anderem verhalten und dies noch einmal zu einem zweiten, zu einem weiteren anderen – und dies ist das Erste. 

Hier tritt die Verwirklichung, die Tätigkeit in den Vordergrund und ersetzt das Wesen oder die Seiendheit. Und die Modalitäten der Tätigkeit werden nach ihren Objekten oder Adressaten differenziert: Verhalten zu sich selber und Verhalten zu anderem und drittens (wie mein Übersetzer verdeutlichend weiterzählt) zu einem zweiten anderen, das nur das Erste sein kann, welches Ursache ist für sich selber und für jenes (erste) andere. Notwendig ist Verhalten zu dem Ersten, das Ursache ist für sich selber und für jenes andere; für das Gleichbleiben, während jenes Ursache ist für das Anderssein. Zusammen sind sie Ursachen für das ewig gleiche Anderssein. Entsprechend verhalten sich die Bewegungen.

 

Das sieht nun aus wie eine sehr abgehobene Verschachtelung von verschiedenen Tätigkeiten, Ursächlichkeiten, Gleichbleiben und Anderswerden. 

Sollen damit die gesuchten Prinzipien gefunden sein? Das ist nur möglich, wenn die Begriffe nicht bloß terminologisch sondern auch „ergologisch“ nachvollzogen werden. Zu solchem Nachvollzug gehört auch die Sorge um die Wörter. Nur so sind die drei Sorgerichtungen plausibel: Sorge um sich, um anderes, um ein drittes als Erstes. 

 

Walter Seitter

1 Kommentar:

  1. Das Protokoll ist eher matt ausgefallen. Kein inspirierter Gedanke, wenn man einmal von der lustigen Steilzahnthese absieht, dass das Halbfrohe mit dem Weiblichen zu identifizieren sei. Dabei ist die besprochene letzte Passage der ›Metaphsik‹ vor dem Gottesbekenntnis des Stagiriten doch wirklich nicht ganz unwichtig.

    Ich bin ja grundsätzlich der Meinung, dass man dieses Buch keiner vordarwinistischen Lektüre mehr zu unterziehen braucht. Wenn man schon die Einwände gegen die antike Ontologie hartnäckig ignoriert, so wären doch wenigsten die feministischen Positionen in der Philosophie einen Blick wert.

    Wie zum Beispiel soll das »Verhältnis zu sich selber, zu anderem und zu einem dritten als Erstes« anders gelesen werden denn als familienmetaphorisch? Wir wissen, dass der Stagarit den männlichen Menschen für das schöpferische Prinzip des Lebendigen hält. Die Frau, das andere, kommt erst an zweiter Stelle in seiner Fortpflanzungslehre. Sie ist in der patriachalischen Ordnung, welcher der Stagarit angehört und zu deren Verfestigung er seine Biophilosophie formuliert, bloss das Tragetier für seinen Samen, sozial beinahe auf einer Stufe mit den Haussklaven. Das Dritte als Erstes ist familienmetaphorisch natürlich das Kind, der Repräsentant für das Gleichbleibende der Form im Kreislauf der Fortpflanzung.

    Nun behauptet der Text auch noch, es gäbe ein Mittleres »das bewegt wird und bewegt«. Wir wissen, dass der Stagirit damit die zweite Zwiebelschale seiner Kosmologie meint, die sich um die erste Zwiebelschale bewegt und die ihrerseits vom unbewegten Beweger bewegt wird. Man kann diese Formulierung aber auch für ein Umschreibung des maternalen Prinzips halten: für den Mutterbauch der bewegt wird und bewegt, womnit wir schon wieder bei der Familienmetaphorik der ›Metaphyik‹ wären.

    Der Stagrität behauptet absolut willkürlich, weil es dieses Mittlere gibt, »so muss es auch etwas geben, dass ohne bewegt zu werden, selbst bewegt«. Dieser logische Schluss ist die einzige Begründung für den Schritt des Denkens hin zu dem (einzigen) Gott, den das Kapitel vollzieht. Man fragt sich, welcher Teufel diesen Denker denn eigentlich reitet, dass er so unbedingt ein männliches Gegenprinzip postulieren muss, das etwas »bewegt, ohne bewegt zu werden«.

    Die Argumentation des Stagiriten strengt überhaupt keine ontologische Dimension an. Sie beschreibt das durch den Begriff der Bewegung aufgerufene Lebendige und beruft sich auf die angebliche Plausibilität eines logischen Gegenteils. Der Stagirit sagt, weil es ein bewegendes Bewegtes gibt, muss es doch auch ein unbewegtes Bewegendes geben. Ja, aber warum denn eigentlich? Das ist doch so, als würde ich sagen, weil fühlende Wesen existieren, muss auch ein denkendes Wesen irgendwo da sein; oder weil giftige Pflanzen blühen, müssen auch ungiftige wachsen, usw. Es ist schon höchst erstaunlich, wie flach die Dialektik des Meisterdenkens wird, wenn er nun tief den Hut vor seinem Lehrer zieht und das Intelligible mit dem Geliebten auf eine Münze prägen will.

    Wolfgang Koch, April 2021

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