τὸ μὲν οὖν αἰσθάνεσθαι ὅμοιον τῷ ... νοεῖν.

Das Wahrnehmen nun ist ähnlich dem ... vernünftigen Erfassen.

Aristoteles (De Anima III, 7: 431a)

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Montag, 14. März 2022

In der Metaphysik lesen (1078b 2 – 1079b 11)

9. März 2022

 

In der letzten Sitzung haben wir Nachfragen zum Hauptgegenstand von Buch XII erörtert, die sich daraus ergeben, daß das Unbewegt-Bewegende mit mannigfachen Bestimmungen und Tätigkeiten geradezu plastisch als „Figur“ charakterisiert wird, andererseits jedoch als unwahrnehmbar sozusagen unter Verschluß gehalten wird. Es ist übrigens in der aristotelischen Lehre das einzige existierende Wesen, dem jede Wahrnehmbarkeit und somit Erscheinungshaftigkeit sowie Körperlichkeit abgesprochen wird. Wir versuchen, diese paradoxe Situation aufzuklären.

 

Wolfgang Koch gibt einige Hinweise, die in unterschiedliche Richtungen gehen: Aristoteles sei ein aporetischer Denker, daher müsse die Frage bei ihm gar keine Lösung finden; und mit dem modernen Begriff des „Absoluten“ könne sie einen verbalen Abschluß bekommen; oder aber sie habe mit dem Christentum schon längt eine Auflösung gefunden (auch wenn diese eine andere Richtung eingeschlagen hat).

 

Im Buch XIII nähert sich Aristoteles selber dieser Frage an, und zwar auf dem Umweg über Mathematik bzw. Geometrie, also auf einer eher platonischen Spur.

 

Das Schöne wird als eine Ursache vieler Dinge angenommen und damit fügt es sich der allgemeineren Ursache, nämlich dem Unbewegt-Bewegenden ein, also dem Hauptgegenstand von Buch XII.

 

Auf die Frage, ob denn das Schöne wahrnehmbar sei, kann sich Sophia Panteliadou erst nach einigem Zögern und Hin und Her zu einer positiven Antwort entschließen. Dabei gilt das Schöne für Platon als das Erscheinendste überhaupt und die Idee des Schönen als die einzige Idee, die wir mit den Augen erblicken können.

 

Wird das Schöne auf diese Weise dem Unbewegt-Bewegenden angeglichen, so wird seine Unwahrnehmbarkeit zumindest relativiert oder sagen wir, sie wird mit Wahrnehmbarkeit kompatibilisiert .

 

Und die Frage erhebt sich, ob nicht etwa die Künstler als Macher des Schönen auch zu jenem UB Zugänge schaffen können, die interessanter sind als die beiden Buchstaben UB, die ja auch wahrnehmbar sind.

 

 

Über das Flächenland von E. A. Abbot nähern wir uns dem Surrealismus, jener einflußreichen Kunstbewegung des 20. Jahrhunderts, die mit dem “Surrealen“ wohl nicht das Irreale im Auge hatte sondern irgendwelche Arten von anderem Realen.

 

Einen weit entfernten Gegenpol zum Surrealismus bildete im 20. Jahrhundert die Phänomenologie und zwischen den beiden Richtungen bildeten sich verschiedene künstlerische und philosophische Richtungen aus.

 

So etwa die Ding-Dichtungen von Francis Ponge, die keineswegs

„begriffslos“ sind, sondern den Begriff des Gegenstandes mit „Gegenspiel“ oder „Gegenfreude“ übertrumpfen wollen.

 

Oder auf der Linie Bataille-Lacan der Begriff des „Realen“, der die „Realität“ in ein bestimmtes Extrem treibt.

 

Lacan hat die Realität aus IMAGINÄR SYMBOLISCH REAL zusammengesetzt.

 

Aristoteles hat das Buch V als Begriffsregister angelegt und damit bestimmte Begriffe hervorgehoben.

 

Die Figur, die er im Buch XII hingeschrieben und beschrieben hat, hat er mit vielerlei Prädikaten ausgestattet. Zwei davon hat er quasi emblematisch hervorgehoben:

 

 

UNBEWEGT BEWEGEND (UB)  

 

DENKUNGSDENKUNG (DD)

 

Ich stelle jetzt eine Liste von Begriffen auf, die direkt oder indirekt den aristotelischen Aussagen entnommen sind und mit denen die zentrale Figur des Buches XII ebenfalls bezeichnet, ausgezeichnet werden kann.

 

 

PERSISTENTER MOTOR

BLEIBENDE ATTRAKTION

DENKAKTIVISTIK

LUSTPERFORMANZ PAUSENLOS

TRANSITIV REFLEXIV

DENKAKROBAT

ZEITVERTREIB IMMERDAR

INTELLIGIBILISIERUNGSSPEZIALIST

 

KUNSTSTATTNATUR

 

INTENSIVINITIATIVE

 

KÖRPERLOSIGKEITSARTIST

NATÜRLICH KÜNSTLICH

STATUS NASCENDI PERPETUUS

EXISTENZARTISTIK

KINETISMUSERFINDER

INTELLIGENZBESTIE

HAUPTSACHE URSACHE

ORIGINALPERVERSION

 

NARZISSE [1]

LEBENSSIMULATION

ERSCHEINUNGSVERWEIGERNDES

 

AI TI ON

KUNSTKÜNSTLER IN USW

VIELLEICHTSCHÖNES

MULTIASEXUELLE ZEUGUNGSTÄTIGKEIT

ENTHUSMIASIERUNG

GEGENWARTSERFINDUNG

DAUERKRAFTWERK

AKTIVIERUNGSEXISTENZ

 

STARBIRTH

 

Natürlich kann diese Liste emblematischer Begriffe fortgesetzt werden – aber ich gehe jetzt wieder zu normalen Aussagesätzen über, in denen Begriffe funktional eingesetzt werden.

 

Und damit komme ich auch auf die Form zu sprechen, in der die hiesige Aristoteles-Lektüre und -Deutung und -Verständigung erscheint. Sie erscheint in Form von Protokollen von Lektüre-Gesprächen, als protokollarische Schrift.

 

Es sind nicht genau die „Protokollsätze“, auf die sich vor hundert Jahren der damit gerade entstehende Wiener Kreis mit größter Begeisterung gestürzt hat, weil man damit endlich eine Aussageform gefunden zu haben meinte, mit der die „Metaphysik“ ein für alle Mal aus der Welt geschafft, endgültig abgeschafft werden konnte. Da die Leute jenes Kreises aber nicht nur Propagandisten und Abschaffer waren, sondern in erster Linie Intellektuelle, haben sie sich bald in endlose Diskussionen darüber verstrickt, was denn eigentlich Protokollsätze seien und was mit ihnen gemacht werden könnte. Endlos bis zum gewaltsamen Abbruch in den Dreißigerjahren.[2]

 

 

Wir bringen im Schriftlichen- oder Graphischen – nur Protokolle der Lektüre-Gespräche zustande. Also protokollarische Schriften. Diese sind unsere bescheidenen poietischen Leistungen, mit denen wir dem Aristoteles etwas entgegen, nein hinzu setzen.

Ganz ohne Poietisches geht es also auch in der angeblich rein theoretischen Wissenschaft nicht ab, um welche wir uns da bemühen. Seine Sätze in dem von uns gelesenen Buch sind ja auch nicht gerade Glanzstücke in Sachen Klarheit und Eleganz.

 

 

 

Aus der aristotelischen Wissenschaftsklassifikation, die zwischen poietischen und praktischen und theoretischen Wissenschaften unterscheidet, ergibt sich die Frage, ob die theoretischen Wissenschaften, wenn sie in ihrer Durchführung auf poietische Aspekte (technische, Machbarkeits- oder Gestaltungsaspekte) nicht verzichten können, vielleicht auch praktische Aspekte (nämlich ethische, politische Entscheidungen) inkludieren müssen.

Diesen Komplex bezeichne ich seit den Menschenfassungen als „Erkenntnispolitik“ und verstehe darunter ein Bündel von Entscheidungsrichtungen, die sich direkt auf Erkennen und Nicht-Erkennen sowie auf die unterschiedlichen Erkennntis- und Wissensmöglichkeiten beziehen.

Den Kern dieses Komplexes bildet eine Frage, für die es unterschiedliche Benennungen gibt. Seit dem europäischen Mittelalter bzw. seit Kant firmiert sie als Alternative „Idealismus-Realismus“.

 

Realismus ist die Annahme, daß Erkenntnis möglich ist, und zwar Erkenntnis von etwas, was von dem Erkenntnisakt unabhängig ist. Idealismus ist die Annahme, daß sich die Menschen derart in die Erkenntnisansprüche und -mittel und -akte verwickeln, daß sie sich daraus nicht lösen können, sondern immer drinnen gefangen bleiben.

 

 

Fritz Mauthner, der seinen Idealismus „Kritizismnus“ nennt, das klingt vornehmer, macht sich über „den berühmten Realismus“ des Aristoteles lustig.

 

Edmund Husserl hat den Realismus in seiner imperativischen Parole „Zu den Sachen selbst!“ zum Ausdruck gebracht und mit dem Imperativischen hat er eben auch zum Ausdruck gebracht, daß der Realismus mitsamt und trotz seinen sozusagen normalen Aspekten wie Intentionalität, Evidenz und Deskription eben auch eine dezisionale Wurzel hat, die allerdings zumeist nicht bewußt wird.

 

Wenn jemand den Realimus als erkenntnispolitische Option annimmt (etwa Aristoteles siehe 1051b 6ff.), dann heißt das allerdings noch lange nicht (soll ich sagen: leider?), daß diese oder jene von ihm behauptete Erkenntnis tatsächlich eine Erkenntnis ist (und nicht Irrtum, Täuschung, Lüge . . .). Wahrheitsgarantie gibt es auch für „Realisten“ nicht.

 

Zum Glück gibt es einen anderen ungefähr synonymen Begriff für Realismus ohne dieses verfängliche weil meinungsfreudige -ismus-Suffix:

 

Das von Sigmund Freud aufgestellte Realitätsprinzip.[3] Ein bei allen Menschen angelegtes und mehr oder weniger (!) wirksames Verhaltensschema, welches im Unterschied und in Auseinandersetzung mit dem Lustprinzip die Orientierung an den Aspekten der Umwelt ermöglicht, die dem Menschen nicht von vornherein gefallen, die seinem Willen widerstehen können und die als Gegenstände speziell seine Erkenntnisfähigkeit herausfordern.

Die ältere philosophische und die neuere psychoanalytische Terminologie kommen also in dieser Begrifflichkeit ungefähr überein, womit das Verständnis der Angelegenheit eigentlich sichergestellt sein sollte.

 

Indem wir uns beim Aristoteles-Lesen ans Realitätsprinzip halten, müssen wir die damit verbundenen Lustmöglichkeiten nicht ausschalten. Da es sich um eine freiwillig ausgeübte Tätigkeit handelt, würde ein solcher Verzicht der Tätigkeit eine Ende setzen und außerdem würde er sie verfälschen, weil zu ihrem Gegenstand auch freudige Elemente gehören.

 

Dies zu einer gewissen Aufklärung über das, was wir da tun – vor allem auch darüber, daß es sich um sensomotorisches Tun handelt. Und nicht bloß etwa um irgendein Verehren oder dergleichen.

 

Mit dem Abschnitt 4 wendet sich Aristoteles der Ideenlehre zu, die als Hauptstück der platonischen Philosophie gilt. Mit ihr hat er sich in diesem Buch schon mehrmals auseinandergesetzt, daher möchten wir erwarten, daß er auch dieses Thema nun aufgreift, um eine Nachbetrachtung zu seiner Theologie anzustellen, wie er das eben mit den mathematischen Gegenständen getan hat.

 

Gegen die heraklitische Reduktion der Realität auf das Fließen habe Sokrates auf der Frage nach dem Was insistiert und so habe er das Allgemeine zum Gegenstand der Untersuchung gemacht – ohne es als abgetrenntes, d. h. selbständig existierendes zu betrachten. Das hätten erst die Anhänger der Ideenlehre getan – und damit kann Aristoteles wohl nur Platon und engste Platoniker meinen. Er stochert auf diese Weise höchst kritisch in seiner eigenen Bildungsgeschichte herum und er tut das ohne (anti)ödipales Ressentiment.

 

Walter Seitter




[1] Im Aristoteles-Lexikon bemerkt Michael Bordt, daß man den aristotelischen Gott aufgrund der noesis noeseos kritisch als „eine Art Narziß“ betrachtet habe. Und er wendet dagegen ein, selbst die Wahrnehmung führe nach Aristoteles die Reflexivität mit sich. Ich schlage als figurales Synonym die glücklichere Blume vor.

[2] Siehe dazu David J. Edmonds: Die Ermordung des Professor Schlick. Der Wiener Kreis und die dunklen Jahre der Philosophie (München 2021)

[3] Siehe Art. „Realitätsprinzip“, in Das Vokabular der Psychoanalyse, herausgegeben von J. Laplanche und J.-B. Pontalis, II: 427ff.

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