τὸ μὲν οὖν αἰσθάνεσθαι ὅμοιον τῷ ... νοεῖν.

Das Wahrnehmen nun ist ähnlich dem ... vernünftigen Erfassen.

Aristoteles (De Anima III, 7: 431a)

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Sonntag, 27. März 2022

In der Metaphysik lesen (1079b 5 – 13)

23. März 2022

 

Daß wir seit dem vergangenen Herbst die Hermann-Lektüre dazunehmen, hat zur Folge, daß die Aristoteles-Lektüre langsamer vorankommt und nicht sehr bald abgeschlossen werden wird. Eine baldige Beendigung der Metaphysik-Lektüre könnte die Illusion nähren, man sei mit dem schwierigen und Leser-unfreundlichen Buch nun endlich fertig geworden und habe es „geschafft“.

Es ist jedoch die säkulare Ungelesenheit des Werkes so festgefahren und verstockt, daß sie nur mit gewissen Lesetricks oder -kunststücken gelockert, gelöst, deblockiert werden kann. Dazu gehört auch die künstliche Verlangsamung oder Auseinanderziehung der Lektüre und der mittelalterliche Text des Hermann mit seiner unorthodoxen Aufgreifung aristotelischer Terme und Themen kann da als „Aufhalter“ eingesetzt werden.[1]

 

Dieser Begriff stammt aus dem Zweiten Thessalonicher-Brief des Paulus, wo er die eigentlich undefinierte Instanz bezeichnet, die die Ankunft des Antichrist, das Ende dieser Welt und die Wiederkunft Christi hinausschiebt.[2]

Die damit gewonnene Fristverlängerung müssen wir aber nicht nur mit Hermann-Lektüre ausfüllen, sondern auch mit eigenen Lese- und Denk- und Sprech- oder Schreib-Anstrengungen. Zumindest müssen wir das langsame Weiterlesen im Buch XIII mit Nachbetrachtungen zum Gelesenen, mit Nicht-Vergessen der Bücher XII, XI, X und so fort „füllen“. Das Vorwärtslesen mit Zurückblättern und Zurückdenken und Zurückspringen anreichern, verzögern und stoppen, um es zu neuen Anläufen zu zwingen.[3] Nämlich dazu, sich in die Konstellation des Gesamttextes hineinzubohren und da weiter zu bohren. Und dieses Sich-Verbohren auch aktiv sprechend und schreibend zu markieren - mit irgendwie neuen Wörtern, auch mit selbstgemachten aus dem 20. oder 21. Jahrhundert nach Christus.

 

Der bis heute unfertige Text ist ja erst drei Jahrhunderte nach dem Leben des Aristoteles fertig gestellt worden – aber eben nicht ganz fertig.

 

Die halb-dadaistische Wörterfolge, die ich dem UB („Unbewegt Bewegendes“) und der DD („Denkungsdenkung“) angehängt habe und die ich natürlich auch zum Nachlesen sowie zum Nachahmen empfehle, das ist so eine Aktion, die irgendetwas auslösen könnte, was irgendetwas anstoßen kann.

 

„Anstoßen“ als Dauerleistung – das könnte dem UB und der DD zugeschrieben werden, welches und welche zwar als Ursache für alle Dinge angenommen werden. Aber nur als Mit-Ursache, als unentbehrliche Agenz, als ein Motor, ein Motivationsaggregat. Das im Vergleich mit anderen als „göttlich“ etikettierten Gesamtursachen eher schwächlich da steht. Aber es ist von Aristoteles reichlich beschrieben, ja geschildert worden. Keineswegs muß es mit irgendeinem Unbestimmten oder Unbegrenzten verwechselt werden.

Die allererste Tätigkeit, die dem UB direkt zugeschrieben worden ist, in ausdrücklicher Anlehnung an ganz gewöhnliches menschliches Sich-Verhalten-Müssen, ist so etwas wie „Zeitvertreib“ – aber eben mit permanenter Lusterfüllung (siehe 1072b 14).

 

Der Exkurs zu den mathematischen Gegenständen im Buch XIII hat zur Vermutung geführt, das UB könnte trotz seiner Unwahrnehmbarkeit aufgrund seines Reichtums an Tätigkeiten dem Schönen nahestehen.

Denn zu seinen motorischen Tätigkeiten gehören auch das Faszinieren, das Attrahieren als „Quasi-Geliebtes“ (1072b 3). Diese aktive Bedeutung von Erogenität ist zwar nicht leicht begreifbar, wenn man die Unwahrnehmbarkeit des UB in Rechnung stellt. Aber das Zusammenstellen und Zusammendenken unvereinbarer Bestimmungen gehört zu dem weitermachenden Weiterlesen der Metaphysik. Vermutlich sollte die Erotik noch stärker als Motiv (d. h. als Bewegendes) ins hiesige Denken der DD hineingenommen werden (auch wenn das bei einem kritizistischen Kritizismus auf Kritik stoßen würde).

 

Aber vielleicht kann man das noch aufschieben – siehe oben.

 

Bernd Schmeikal und Sophia Panteliadou plädieren dafür, die Wahrnehmung von Unwahrnehmbarem eigens zu thematisieren. Hierzu meine ich, es würde dem Duktus des aristotelischen Denkens besser entsprechen, im Umfeld des Problems nach Analogien oder Assoziationen zu suchen, die zumindest eine indirekte Annäherung an Wahrnehmbares bieten (meine persönliche Option geht ja, wie man eigentlich schon bemerkt haben sollte, in die Richtung einer „Physik der Metaphysik“). Und dies wäre am ehesten auf der Ebene der Sprache möglich und zunächst bei der Sprache des Aristoteles, die ja wahrnehmbar ist und deren Wahrnehmbarkeit durch Tätigkeiten aufseiten der Wahrnehmenden gesteigert werden kann (wie die aristotelische Wahrnehmungslehre nahelegt). Die Wahrnehmenden sind in diesem Fall die Lesenden - also wir.

 

Anstatt diese schwierige Situation mit philosophistischen Wörtern wie „Aporie“ oder „Absolutes“ resignativ oder triumphal abzuschließen, scheint es mir fruchtbarer, sie aktiv-katechontisch weiter zu gestalten.[4] Sowohl ein „praktischer“ Imperativ, der sich gegen Ermüdung oder Verzweiflung richtet, wie auch ein „poietischer“ Impetus zum Machen und Gestalten fordern dazu auf. Hat man die Kraft und den Willen dazu, so „beweist“ man damit nicht, wohl aber „bestätigt“ man das UB in seiner Wirksamkeit auf sich selber: man läßt sich von ihm bewegen, anstoßen, verführen, weitertreiben.

 

Da der Text die Auseinandersetzung mit der Ideenlehre aufnimmt, fragen wir uns, wie sich die platonischen Ideen zum aristotelischen UB verhalten. Man könnte ja meinen, sie nehmen in den beiden Lehren vergleichbare Positionen ein: nämlich die Positionen jeweiliger „transzendenter“ Instanzen. Gemeinsam ist ihnen Unwahrnehmbarkeit, doch unterscheiden sie sich graviderend durch die Zahl: die Ideen sind mehrere, das UB ist nur eines. Dennoch könnte ja das UB die einzige von Aristoteles noch zugelassene Idee sein. Sophia Panteliadou verwirft diese Annahme. Der qualitative Unterschied ist zu groß: Ideen sind Urbilder, Vorbilder, Paradigmen. Dem UB und noch deutlicher der DD ist das Bildhafte fremd. Es und sie (sie sind dasselbe) haben den Charakter von Performanz, Initiative, transitivem Impetus.

 

Mit dieser Feststellung kommen wir vielleicht auch ihrer Unwahrnehmbarkeit, vor allem Unsichtbarkeit näher. Ihre Unsichtbarkeit ist fundamentaler als die der Ideen - die sind nämlich „eigentlich“ sichtbar, und zwar sehr sichtbar, geradezu übersichtbar, blendend sichtbar. Die Idee des Schönen ist sogar so freundlich und tatsächlich sichtbar.

Vielleicht kann man UB und Wahrnehmung denkerisch einander annähern, wenn man die andere Titelformel, nämlich DD in Betracht zieht, also noesis noeseos, und an die trianguläre Ähnlichkeit zwischen noesis, aisthesis und phasis, also Denkung, Wahrnehmung, Sagung erinnert. Das Suffix sis drückt die Performanz aus und bei der Wahrnehmung ist es gerade die Performanz, die sich der Wahrnehmung tendenziell entzieht. Auch das Sehen wird weniger sicher gesehen als irgendein Gesehenes wie ein Ding oder ein Bild. Das Sehen ist zwar das Ereignis, welches jegliches Sichtbare zum Gesehenen macht, aber es selber möchte nicht oder kann nicht zu einem dauerhaften Gesehenen werden. Es ist „nur“ Bewegung, nur ein Stoß, nur ein Ruck. Den nimmt man am ehesten wahr, wenn man ihn selber vollzieht. Daher noesis noeseos.

Aber es gibt für das Sehen noch ein Wort, welches das Ereignishafte hervorhebt: Blick, der wiederum auf der Objektseite ein direktes Pendant hat: Blitz.

 

Und der führt mich zur heraklitisch-kittlerischen Inspiration

 

„Alles steuert der Blitz.“ (Heraklit, R 75)

 

Vorsokratiker-Fragmente eignen sich bekanntlich sehr gut dazu, auf dies und das bezogen zu werden. Als Friedrich Kittler kurz vor seinem Tod einen Vortrag mit diesem Satz titulierte, verstand er ihn polarisierend-zweideutig sowohl in die Richtung des von Göttern bewohnten Kosmos wie auch in die Richtung moderner Elektrik und Elektronik.

 

Ich sehe in ihm eine voraristotelische Formel für das Unbewegt Bewegende, das denkend durch die sichtbare Welt hindurch wirkt, ohne selber voll und ganz angeschaut werden zu können.

 

Walter Seitter




[1] Zu einer genaueren Einschätzung des Hermann-Textes „De essentiis“ läßt sich jetzt noch nichts sagen. Aber gewisse Elemente seines Vokabulars könnten nützliche Begriffe zum Weiterschreiben des Aristoteles sein: dignitas, foedus, figura, descriptio.

[2] Siehe M. Rauchensteiner und W. Seitter (Hg.): Tumult Schriften zur Verkehrswissenschaft 25: Katechonten. Den Untergang aufhalten (2001)

[3] Wie Vorwärts- und Rückwärtsbewegungen zusammengepresst in einem kulturellen Komplex ein schraubenförmiges Eindringen zustandebringen, zeigt Michel Foucault in seinem Nachwort zur Versuchung des Heiligen Antonius. Gustave Flaubert: Die Versuchung des heiligen Antonius (Frankfurt 1966): 255

[4] Den Philosophismus als eine déformation professionelle habe ich in meinem Aristoteles-Buch mehrfach erwähnt. Man kann sich denken, daß er für Erogenität in der Philosophie keinen Platz sieht. 

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