τὸ μὲν οὖν αἰσθάνεσθαι ὅμοιον τῷ ... νοεῖν.

Das Wahrnehmen nun ist ähnlich dem ... vernünftigen Erfassen.

Aristoteles (De Anima III, 7: 431a)

* * *

Sonntag, 20. März 2022

In der Metaphysik lesen * Hermann – Lektüre 10 (62vF - 63vC)

Mittwoch, 16. März 2022

 

 

Wir beginnen mit dem Zwischenkapitel, das Burnett mit dem Titel der Bewegungen versehen hat, worin es unterschwellig um Rangordnungen geht, teilweise in geradezu offener Form.

 

Wenn es um das Verhältnis von Essenzen und Substanzen geht, wird die Frage der Rangordnung sehr deutlich und die Härte des mittelalterlichen Tons hörbar. So wird Ptolemäus für die enge Beziehung der höheren Ordnung mit der unterworfenen Natur kritisiert. Die Wendung subiecta natura könnte man zwar auch mit „zugrundeliegender Natur“ übersetzen, aber Walter Seitter verlangt die harte Deutlichkeit der hierarchischen Vorstellung der Gesellschaft, die schon in dieser Kosmologie in der Elementelehre hervortritt.

Daher übersetzen wir, weil wir dem zustimmen, die Wendung subiecta natura mit „unterworfener Natur“, um das Verlangen nach Rangunterschieden bei Hermann an dieser Stelle sichtbar oder spürbar zu machen.

Hermann wird diese Rangordnung in den Aufbau der Welt selbst festmachen, wo sich die Befehlsgewalt oder Amtsgewalt (virtutis officium) der oberen gegenüber der unterworfenen Natur in der Logik des Aufbaus (dispositionis ratio) zeigt.

In dem Abschnitt „Bewegungen“ wiederholt Hermann die Vorgänge der Schöpfung und Zeugung, wobei die Zeugung wiederum zweigeteilt wird, um nicht die Reihenfolge, aber doch die Rangfolge festzulegen. Denn in der ersten Zeugung werden die Prinzipien der ersten Dinge in die Welt gebracht, die, wenn sie einmal geboren sind, niemals sterben. Vergehen müssen die Dinge der zweiten Zeugung, die nur von zweitrangiger Würde sind, weil sie zweifach gezeugt und daher unvollkommen sind, die der Richter auch wieder zu sich nimmt, um sie zu vervollkommnen. Von sich aus ist es den Zweitrangigen nicht möglich sich bis zu Gott zu erstrecken, wie es den ersten Dingen möglich zu sein scheint.

 

Hier interveniert Walter mit folgenden Fragen:

Mit der "sekundären Würde“ wird die Nummerierung von der Entstehung auf die qualitative Hierarchie übertragen - ?

Diese Art von Nummerierung spielt schon bei Aristoteles eine gewisse Rolle – hängt sie mit einer antiken Zahlentheorie oder Ordnungsvorstellung zusammen? . . . ehe, eher, erst

sekundäre Zeugung derjenigen Dinge, die geboren werden und vergehen . . . aus den winzigen Überresten . . . der vergangenen . . . sind die Samen auch Überreste der abgestorbenen Dinge? Gibt es im folgenden Satz eine Spannung zwischen dem ersten Guten und dem zukünftigen Guten ?

 

Tatsächlich spricht Hermann von der Zusammenfügung der Dinge der zweiten Zeugung aus den verbliebenen Teilchen oder Samen, aber die Samen oder Prinzipien der ersten Zeugung können nicht sterben, das beginnt erst mit der zweiten Zeugung.

Die Spannung zwischen dem ersten Guten und dem zukünftigen Guten ist eine Spannung zwischen Theodizee und eschatologischen Andeutungen. So spricht Hermann davon, dass der Schöpfer in den zweitrangigen Dingen wenigstens Ansehen und Ähnlichkeit der Ersten Dinge ausgedrückt sehen wollte, und dass Gott nichts machen würde, was vom Grunde des Guten abweichend sei. Dennoch muss anscheinend betont werden, dass die zweitrangigen Dinge nicht nutzlos sind, und dass sie dem Schöpfer wertvolle Früchte zurückgeben können. Damit ist das Abgabensystem des Mittelalters in die Schöpfung eingebaut.

Die eschatologische Andeutung besteht in der Rücknahme der Dinge von zweitrangiger Würde zum Richter, um sie zu vervollkommnen, also eine Art jüngstes Gericht noch ohne Hölle.

 

Weiter Walter Seitters Anmerkungen:

-      erster Koitus der Form mit der Materie

-      die Masse der Samen in zwei Teile geteilt: Aktivität und Passivität und deren Zusammengehen

-      männliche und weibliche Samen qualitativ unterschieden?

 

Die zweite Ursache ist mit ersten Zeugung identisch und damit mit der zweiten Bewegung, die zur Vereinigung von Form und Materie führt. Aber erst wenn die Samen zuerst in eine obere und untere Hälfte geteilt wurden, werden sie nach geschlechtlichen Kennzeichen geordnet. Der Einstieg in die zweite Zeugung ist die Mischung der verschiedenen geschlechtlichen Samen und das Auftreten der Bereitschaft von Aktivität und Passivität. Hierbei gibt es noch keine solche Bestimmungen der Rangordnung der Geschlechter, wie bei den Dingen der zweiten Zeugung, zumindest nicht an dieser Stelle.

 

Noch einmal Walter Seitter:

-      discordia amice fidei pacto

-      moralische Verpflichtungen und Institutionen

-      legitimo federe  

-      societatis fedus   Schlüsselwort für den „Feudalismus“

-      „Herzöge“ und „Grafen“ - hier vielleicht Redensarten für bestimmte Zahlen?

-      Anwendung von Begriffen aus menschlichen Verhältnissen auf kosmische Eigenschaften und deren Übergänge  . . .

 

Es gibt ein weiteres Anordnungsproblem bei der Aufstellung der Samenpaare, nämlich entgegengesetzte Teile oder Gruppen von Samen, die sich feindlich gegenübertreten könnten, um Zwietracht in den Pakt des freundschaftlichen Vertrauens zu bringen. Es klingt wie der Versuch einer institutionellen Lösung der ständigen Auseinandersetzungen zwischen verschiedenen Gruppen. Nämlich durch gesetzliche Verbindungen – legitimo federe – und die harmonische Architektur der Welt als Sphäre. Dieser Aufbau der Welt soll auch gegen die Widersprüchlichkeiten schützen – discors – der das gemeinschaftliche Bündnis – societatis fedus – stören könnte. Natürlich mag man nachträglich an den Feudalismus denken, obwohl dieser Begriff aus dem 19. Jahrhundert stammt, aber so nahe kommt man im 12. Jahrhundert wahrscheinlich nicht oft an den Wortlaut selbst heran.

Zu den Herzögen und Grafen macht Burnett folgende Anmerkungen:

Zu diesen arithmetischen technischen Begriffen, siehe Boethius De institutione Arithmetica I.24. Die Herzöge sind die höheren Zahlen in Verhältnissen, die Grafen sind die niedrigeren Zahlen. Die Reihe der Verhältnisse, die Hermann im Auge hatte, ist folgende:

 

     e  m  m  e

     2   4   6   8  (Essentia)

     1   2   3   4  (Substantia)

     e = extremum, m = medium

 

In dieser Reihe stehen die Extreme im selben Verhältnis (8:4 = 2:1) und die Mittelteile stehen auch im selben Verhältnis (6:3 = 4:2) und in jeder Ordnung ist das Verhältnis der Mittelteile zu Extremen dasselbe (4:2 = 2:1, 4:8 = 2:4, 6:2 = 3:1; 6:8 = 3:4).

 

In der Einrichtung der kosmische Ordnung brechen immer deutlicher menschliche Verhältnisse durch, nicht nur was Geschlechtlichkeit und Rangordnungen betrifft. Manchmal hat die Astrologie menschliche Vorgänge wie Heiraten auch in den Verhältnissen der Sterne gefunden.

 

Ob hier Synkretismus aus unterschiedlichen theoretischen Richtungen vorliegt, ist schon beantwortet, und dass die dargebotene Mischung keine reine Philosophie sein dürfte, daran habe ich wenig Zweifel.

Dass die astronomischen und astrologischen Konzeptionen von Ptolemäus und Abu Ma´shar von Hermann danach beurteilt werden, wie durchlässig die Hierarchie ist oder wie abgeschottet die Ordnungen sind, klingt stark nach Sorge um die ständische Ordnung und weniger nach der Frage wie der Himmel tatsächlich aufgebaut ist.

 

Karl Bruckschwaiger

 

nächste Sitzung: Aristoteles Buch XIII, ab 1079b - 12

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen