τὸ μὲν οὖν αἰσθάνεσθαι ὅμοιον τῷ ... νοεῖν.

Das Wahrnehmen nun ist ähnlich dem ... vernünftigen Erfassen.

Aristoteles (De Anima III, 7: 431a)

* * *

Freitag, 17. Juni 2022

Zwischenprotokoll vom 17. Juni 2022

Am letzten Mittwoch wurden in Hermanns Buch „De essentiis“ Ausführungen zur Kosmologie gelesen, deren spezifische Wissenschaftlichkeit von Karl Bruckschwaiger erklärt wurde: antike Theorieannahmen, behauptete Beobachtungen (Körperbewegungen und Schattenveränderungen zwischen Sonne, Mond und Erde), Messungen mithilfe von definierten Maßeinheiten, Auseinandersetzungen mit neueren Hypothesen, zunächst keinerlei weitergehende Schlußfolgerungen.) Wolfgang Koch sagt, der Text würde im weiteren Verlauf massiv theologisch. Im westeuropäischen Mittelalter hätten alle Philosophen Gott in der Mitte der Welt situiert – mit der einzigen Ausnahme Thomas von Aquin, für den Gott unerkennbar sei.

Ich positioniere mich zum bisher Gelesenen auch als naiver Himmelsbeobachter, für den – wie für Francis Ponge – der Wechsel von Tag und Nacht den permanenten und dramatischen Wahrnehmungsverlauf in Sachen Himmelserscheinungen strukturiert, worüber ich vor über zwanzig Jahren auch ein zweibändiges Werk verfaßt habe und wozu ich vor zehn Jahren an einer Ausstellung im Belvedere mitgearbeitet habe, in deren Zusammenhang mir zum Beispiel der Astronom Thomas Posch das Sehen des abendlichen Erdschattens beigebracht hat (das war beim Leopold-Figl-Observatorium auf dem Schöpfl).

 

Die intensivsten Himmelswahrnehmungen wurden mir zuteil, als ich mich durch viele Jahrzehnte hindurch immer wieder an atlantischen Küsten den weiten Räumen ausgesetzt habe, aber wohlgemerkt jederzeit an bestimmten Orten, die zumindest durch Sand wenn schon nicht durch festeren Stein stabilisiert sind. Die Öffnung, das Ausgreifen, das Ausschauen zum Raum ist mir nur von festen und endlichen Orten (Örtern?) aus möglich – insofern hat die Wahrnehmung eine zentrische Struktur (die jedoch nur gedanklich und kaum empfindungsmäßig zu einer vollen Sphäre sich rundet). Bestimmte Himmelsphänomene wie zum Beispiel das konstante Farbenspiel des wolkenlosen Morgen- oder Abendhimmels lassen sich über dem Meer besser beobachten als anderswo. Es gibt sie aber auch anderswo und sogar in der Stadt.

 

Seit wenigen Jahren bin mehr oder weniger an die Stadt gebunden – und Wien ist die meerfernste, die ich kenne. Es gibt auch da Orte, die sich sehr gut zum Himmmelschauen (eine Art Fernsehen, die den Menschen schon seit jeher bekannt war und die sie, wie man sagt, zum Menschsein aufgerichtet hat) eignen.

So einer ist der kleine Platz vor dem Café Korb in der Wiener Innenstadt, der gar keinen eigenen Namen hat und auch nie als solcher geplant worden ist. Sitze ich vor dem Café so, daß ich geradeaus in die Kühfußgasse schaue, eine enge und kurze und hohe Gasse, die geradewegs auf die Peterskirche zuläuft, auf deren unscheinbare Hinterseite, aber doch auch auf die hohe Kuppel, deren massiges und rundes Volumen sie dadurch noch zu vergrößern scheint, daß sie aus ihm nur einen schmalen Ausschnitt herausschneidet, so befinde ich mich in einem zufälligen Observatorium, das von keinem Astronomen und auch von keinem modernen Künstler errichtet worden ist sondern als Ergebnis säkularer Bau- und Bauerhaltungstätigkeiten zu betrachten ist.

 

Die hellgrüne Kuppel, die in den oftmals blauen oder blau-weißen oder wolkig-dramatischen Himmel ragt, vermittelt immerhin eine Farbigkeit, die sich von irgendeinem tristen Grau ebenso abhebt wie von der neueren Plastik- oder Neon-Buntheit. Sie lenkt den Blick zum Himmel hinauf, aber die hohen Häuser der kleinen Gasse lassen nur ein kleines Himmelssegment zum Vorschein kommen – ähnlich wie die Ausschnitte auf den Observatoriumskuppeln oder die Öffnungen der künstlerischen Lichträume.

 

Vor einigen Wochen hat Franz Schubert auf meinen Wunsch diesen Blick in ein kleines transportables Viereck gebannt, das ich dem Text anhänge.

 

Und vor wenigen Tagen saß ich wieder einmal vor der Gasse, deren kleinsteiniges Stöckelpflaster eine sehr gute (und gleichgroße) Landkarte auf die Erde legt. Den Himmel gibt es für uns nicht ohne die Erde, die ebenfalls angeschaut werden will. Das ist die unvermeidliche Geo- und auch Anthropozentrik unseres Himmelsehens (nicht zu verwechseln mit Anthropozentrismus).

 

Um ein Uhr kam die Sonne über der linken Häuserkante hervor, der tiefe Schatten zog sich allmählich aus der Gasse zurück. Die Sonne wanderte langsam von links nach rechts. Ungefähr um zwei Uhr stand sie genau über der Laterne mit der kleinen Kuppel über der großen Kuppel und etwas später verschwand sie wieder hinter der rechten Häuserkante. So exakt funktioniert dieses Observatorium – exakt weil das Verhalten der Sonne regulär ist und das Observatorium stabil.

 

So ein Erlebnis gehört zur Situiertheit meines Aristoteles- und Hermann-Lesens: es ist sehr wohl ein „subjektives Empfinden“ – aber ein objekt-orientiertes. Und insofern etwas Kollegiales gegenüber den älteren Erkennntisversuchen.

 

Walter Seitter

 

 

 

 


 


Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen