τὸ μὲν οὖν αἰσθάνεσθαι ὅμοιον τῷ ... νοεῖν.

Das Wahrnehmen nun ist ähnlich dem ... vernünftigen Erfassen.

Aristoteles (De Anima III, 7: 431a)

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Mittwoch, 8. Juni 2022

In der Metaphysik lesen (1079b 24 – 1080a 36)

 Mittwoch, am 1. Juni 2022

 

Während Emanuel Levinas in seiner letzten Publikation „Ethik als Erste Philosophie“ (Wien 2022) die innere Gliederung und Ordnung der Philosophie – im Vergleich zu Aristoteles – umwirft und die mit der Ontologie irgendwie verschwägerte Theologie vom Ehrenplatz der Ersten Philosophie vertreibt, um die (ebenfalls von Aristoteles begründete) Ethik darein zu setzen, hat meine jüngste Neuformulierung der aristotelischen Wissensordnung nur das Ziel, diese Ordnung klarer und verständlicher als bisher üblich darzustellen. Und dazu ist es notwendig, Aristoteles folgend den Begriff der Wissenschaft als Hauptbegriff voranzustellen und den Titel „Philosophie“ nur bestimmten Wissenschaften zuzuerkennen.

 

Es bleibt bei den drei Wissenschaftsgattungen, der theoretischen, der poietischen und der praktischen, die sich durch die jeweiligen Zielsetzungen voneinander abheben, und nicht bloß durch Gegenstandsfelder. Innerhalb der theoretischen Wissenschaften ist die Reihenfolge aus Physik, Mathematik, Theologie nicht unwichtig, die sich aus ihrer Nähe zum menschlichen Erkenntnisvermögen ergibt. 

Die Theologie wird als späteste oder letzte Wissenschaft markiert, indem sie von vornherein als „gesuchte“, noch nicht sofort formulierbare, bezeichnet wird. Und sie erweist sich als besonders prekäre Unternehmung, da zwei ihrer 14 „Bücher“ nicht die Form der Abhandlung aufweisen, sondern als „Listen“ verfaßt sind: Liste der Aporien (mitsamt Lösungen), Liste der Begriffe (mitsamt Analysen). Die Aporienliste bestätigt den Charakter der Suche, die Begriffsliste unterstreicht die Nähe zur Logik.

 

Diejenige Wissenschaft, die als erste den Titel „Philosophie“ zugesprochen bekommt, ist die drittgereihte Theologie, deren undeutlich-enge Kollegin, die Ontologie, extra als Wissenschaft bezeichnet wird (Buch IV). Und die Physik, zunächst „erste“ theoretische Wissenschaft, wird dann zur Zweiten Philosophie erklärt. Wobei die Zweite Philosophie gegenüber der Ersten den Vorzug genießt, daß sie von Aristoteles bereits abgehandelt worden ist und insofern schon „feststeht“. Ähnliches gilt übrigens für die „Philosophie der menschlichen Angelegenheiten“, die sich aus den praktischen und poietischen Wissenschaften zusammensetzt.

 

Die Gesamtheit der aristotelischen Philosophie weist zwar eine bestimmte Gliederung und Ordnung auf, aber ausgerechnet ihr Höhepunkt, die sogenannte „Metaphysik“ bildet ihren epistemologischen Schwachpunkt. Auch daher empfiehlt es sich, Aristoteles zu folgen, und den bescheideneren Ordnungsbegriff „Wissenschaft“ voranzustellen.

 

Mit den beiden irregulär parallel laufenden Grundton- und Obertonlinien habe ich die unklare Zusammenspannung aus Ontologie und Theologie andeuten wollen, die sich durch das „Metaphysik“ genannte Buch zieht. Ein doppelbödiger Verlauf, in dem die Kontinuität durch mehrere Arten von Diskontinuität gebrochen wird (so auch die Einschaltung der beiden „Listen“-Bücher).

 

Als Lehre von den logischen Formen, die den Dingen auf unterschiedliche Weise immanieren, kann die Ontologie als Objektivierung der von der Logik dargestellten Denkformen betrachtet werden (siehe dazu die sog. objektorientierte Ontologie von Graham Harman). Allerdings ist diese „Objektivierung“ nicht mit der platonischen Hypostasierung von Wesen oder von Zahl zu eigenständig existierenden Entitäten gleichzusetzen. Bemerkenswert noch im Abschnitt 5 der gegen die platonischen Ideen gerichtete Einwand, daß selbst dann, wenn diese ursächlich wirksam wären, zur Entstehung von Dingen doch „etwas, was bewegt hat“, angenommen werden müßte. Diese Postulierung einer Wirkursache klingt zunächst einmal „physikalisch“; sie kann sich aber auch auf das unbewegt Bewegende, also auf die fernste Wirkursache beziehen. 

 

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Meine (und nicht nur meine) Annahme vom unfertigen ja unordentlichen Charakter der „Metaphysik“ bestätigt sich wieder einmal jetzt, da Aristoteles zu einer ausführlichen Auseinandersetzung über die Zahlenlehre ansetzt, nachdem diese schon im Abschnitt 6 des Begriffslexikons und im gesamten Buch X Thema war. Die Platzierung des jetzt gelesenen Buches als dreizehntes nach dem zwölften Buch (mit der Theologie) kann zwar überhaupt nicht dem Verfasser Aristoteles zugerechnet werden, aber sie erzeugt eben die für das Gesamtwerk charakteristische Reihung, in welcher ontologische Fragestellungen nach der Theologie einfach weitergeführt werden. Das unfertige Werk ist ein paar Jahrhunderte nach Aristoteles fertig und eben nicht fertig gestellt worden. Als alleiniger Autor kann er also nicht gelten. Als einer natürlich schon, aber es müssen auch weniger natürliche dazu gekommen sein und es können noch welche dazu kommen. Ich erinnere an mein Motto zum Protokoll vom 18. Mai. 

 

Die Auseinandersetzung über die Zahlen wird von drei Zahlen-Unterscheidungen geprägt: verschiedene Auffassungen von den Zahlen, verschiedene Bedeutungen des Begriffes „Zahl“, zwei sehr unterschiedliche Wörter für „ein“ – nämlich das bekannte Zahlwort „ein“ und die Substantivierung des ganz anderen Wortes, das sich allerdings mit dem Mönch, dem Monarchen, dem Monopol bis ins Neuhochdeutsche gehalten hat und dessen Grundbedeutung „einzig“ oder „allein“ ist.

Neben dem Einen (auch Einheit) gibt es also sprachlich die Einzigkeit oder Alleinheit. 

 

Der erste Begriff entspricht der Zahl der Mathematiker: die „Zählzahl“, die es fürs Zählen und aus dem Zählen gibt. Der zweite Ausdruck dürfte der anderen Auffassung von Zahl entsprechen: der „Wesenszahl“. Statt des zählbaren Einen die Alleinheit – also eine Einheit, die einzig zu sein beansprucht.

 

Soweit ein vorläufiges Resümee der Zahlenerörterung.

 

Walter Seitter

 

 

Nächste Sitzung: Mittwoch, 15. Juni 2022 – Hermann-Lektüre.

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