τὸ μὲν οὖν αἰσθάνεσθαι ὅμοιον τῷ ... νοεῖν.

Das Wahrnehmen nun ist ähnlich dem ... vernünftigen Erfassen.

Aristoteles (De Anima III, 7: 431a)

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Freitag, 24. Juni 2022

In der Metaphysik lesen (1080a 37 – 1081a 17)

 Protokoll vom 22. Juni 2022

 

Innerhalb der aristotelischen Wissensordnung kommt der „Wissenschaft“ ein begrifflicher Vorrang zu. Doch nur bestimmte Wissenschaften werden als Philosophien ausgezeichnet: Erste Philosophie, Zweite Philosophie, Philosophie der menschlichen Angelegenheiten. In der modernen Unterscheidung zwischen Analytischer und Kontinentaler Philosophie würde Aristoteles eher auf die Seite der Analytischen geraten, und die geophysikalische Herkunft der altgriechischen Philosophie würde insofern dazu passen, als das Griechenland, in dem sie entstanden ist, mehr aus Meer denn aus Land besteht: es reicht von Sizilien bis an die kleinasiatischen Küsten. 

 

Im Buch XIII springt der Text von der knapp ausgeführten Theologie zu einer Erörterung der Mathematik, die keinen philosophischen Status hat – aber die Erörterung selber ist der Ontologie zuzurechnen, welche ja den Löwenanteil der „Metaphysik“ ausmacht und zur Ersten Philosophie gehört. 

 

Die Tatsache, daß innerhalb der „Metaphysik“ (und damit auch innerhalb der „Ersten Philosophie“) Ontologie und Theologie ohne deutliche Unterscheidung miteinander koexistieren, erzeugt eine Verwirrung, aus der die Leser sich nur befreien können, wenn sie das Lesen gegenstrebig weiterführen: vorwärts lesend und zurückschauend. Das Hin und Her aus Vorwärts und Zurück (zum Beispiel zum Buch IV) muß sich seinerseits bewegen, sodaß sich seine Klammerfigur vervielfacht, was man graphisch darstellen könnte, wenn man ein Graphiker wäre. 

 

Das leere Schema würde etwa so ausschauen:

 

( (  )((  ) ) ( (    ) (      )  ) (    )  (

 

Dieses rein horizontale Lektüre-Schema hat sich über das Text-Schema mit den beiden übereinander verlaufenden Linien von Grundton und Oberton zu legen, das ich im Protokoll vom 18. Mai 2022 angedeutet habe und das ebenfalls von links nach rechts verläuft. Diese topologischen oder topographischen Versuche beziehen sich auf den Themenverlauf im Text selber und wollen nicht etwa irgendetwas im Weltraum situieren. Es geht um eine Zurüstung des Lesens in dem umfangreichen Text, der seine eigene Intention nicht eindeutig deklariert und der in seiner Durchführung häufig undeutlich erscheint. Und dies obwohl sein erster Verfasser der als sachorientiert bekannte Aristoteles ist.  

 

Ein partielles Nachlesen der aristotelischen „Physik“ wäre ein großer und nützlicher Zurück-Schritt, sofern dieses Buch in der „Metaphysik“ als bereits vorliegend erwähnt wird und seine Themen aufgegriffen und weiter besprochen werden.  

 

In unserem Text fällt auf, daß Aristoteles für das Signifikat „eins“ in der zahlbegrifflichen Bedeutung zwei sehr verschiedene Wörter, also Zahlwörter, einsetzt, die auf der Signifikantenebene nichts gemeinsam haben. Ich habe das bereits im letzten Protokoll erwähnt und bemerke nun dazu, daß diese sprachliche Duplizität „ausgerechnet“ beim Zahlwort „eins“ doch einen extrem „analytischen“ Charakter der griechischen Sprache anzeigt, ja einen „schizoanalytischen“, um eine Wortbildung von Gilles Deleuze und Félix Guattari aufzugreifen: zwei stark differierende Einsen (oder zwei Eine oder zwei Einheiten).

Der analytische Charakter des aristotelischen Philosophierens ist vorgeprägt durch einen extrem-analytischen Grundzug der altgriechischen Sprache, der jedes einfache Schwärmen von der Einfachheit des Einen erschwert.

 

Das eine Eine ist vergleichbar, das heißt man kann es zählen, vermehren und mit ihm rechnen. Das andere ist so einzig, daß es sich jeder zusammenfügenden oder rechnenden Operation verweigert. Und es gibt nie nur das eine Eine. 

Es gibt vergleichbare Zahlen, unvergleichbare Zahlen, Zahlen mit Ausdehnung, Zahlen ohne Ausdehnung, Sinnesdinge, (platonische) Ideen, (aristotelische) Formen – Aristoteles fragt, welche Beziehungen zwischen diesen Begriffen (und möglichen Entitäten) möglich beziehungsweise wirklich sind. 

 

Es mag sein, daß wir mit diesem Referieren nur wenig von dem Text verstehen, es kann auch sein, daß in diesem Text auch nur wenig zu verstehen ist, daß er mit seiner Reproblematisierung von pythagoräischen und platonischen Ansichten eine eher mindere oder sagen wir banale Rekapitulation ontologischer Annahmen liefert. Aber wenn wir versuchen, uns diese klar zu machen und wenn wir nur gelegentlich einen Punkt treffen, der über bereits Bekanntes hinausführt, dann befinden wir uns wohl doch auf dem Weg, den Aristoteles mit dem Bogen zwischen dem Buch I und dem Buch XII andeutet. 

 

Buch I:

Alle Menschen streben von Natur aus nach Wissen. Sie streben von Natur aus, das heißt sie müssen gar unbedingt, sie können das aus Gleichgültigkeit, Bequemlichkeit oder dergleichen auch verweigern (Lacan: Ignorieren als Leidenschaft).[1] Und Streben ist mehr als bloß Wünschen: Streben heißt: etwas tun zum Erreichen des Gewünschten.

 

Dieses Tun wird von Aristoteles selber performativ programmiert und geleistet in der Weise, daß er eine „gesuchte Wissenschaft“ zu realisieren unternimmt. 

 

Buch XII: 

Er bewegt sich tätig auf so ein Ziel zu, das er sich denkt, und damit läßt er sich von so einer gedachten, begehrten, geliebten Erkenntnistätigkeit zu seiner eigenen, weniger vollkommenen bewegen. 

 

Er läßt die vollkommene Erkenntistätigkeit als Bewegursache auf sich wirken und „macht“ sie so zu seinem Bewegungsmotiv. 

 

Die vollkommene Erkenntnistätigkeit als Bewegursache wird von Aristoteles mit dem Namen „Gott“ etikettiert. Begrifflich das heißt begreifbar wird sie durch mehrere Definitionen, die hier schon erwähnt worden sind. Auch als etwas, dessen „Wesen“ die „Ins-Werk-Setzung“ ist (1071b 20). 

 

Der Bogen graphiert eine Spannung zwischen solchen wie wir und jenem mit starker Begrifflichkeit geschilderten Gegenpol.[2]

 

Die aristotelische „Theologie“ ist zusammengesetzt aus physikalischen, ontologischen, erotologischen, psychologischen, poetologischen, dramatologischen, politologischen Wissenschaftselementen. Dennoch kein Sammelsurium sondern eine konzise Konstruktion. 

 

 

Walter Seitter


[1] Bei dem hier berührten Punkt handelt es sich um eine Weichenstellung, die ich schon öfter als „Erkenntnispolitik“ bezeichnet habe: Notwendigkeit von Entscheidungen im Feld des Kognitiven. Als ein relativ gut bekanntes Beispiel für eine erkenntnispolitische Entgleisung könnte man den Alles-Besser-Wisser nennen, von dem Sokrates gesagt hat, er sei letzten Endes der Dümmste (weil er sich weigert, dazuzulernen).

[2] Obwohl das Spannungsverhältnis zwischen dem Bewegenden und den Strebenden ein asymmetrisches ist, charakterisiert Eric Voegelin beide Seiten durch Denktätigkeit oder noetische Aktivierung. Siehe Eric Voegelin: Anamnesis. Zur Theorie der Geschichte und Politik (München 1966): 283ff. Eine andere Interpretation des Spannungsverhältnisses verstärkt dessen Asymmetrie; so sagt Aristoteles im Buch I im Zuge der Historie der voraristotelischen Erkenntisbemühungen, daß gewisse Denker „von der Wahrheit selbst gezwungen“ worden seien, die Suche nach Prinzipien nicht abzubrechen, sondern neue Wege einzuschlagen. (984b 10)

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