Zunächst kommen wir darauf
zurück, daß Joe Sachs innerhalb der Metaphysik „Ontologie“ und
„Theologie“ unterscheidet. Und zwar sagt er, das Gesamtwerk sei von Aristoteles
selber „Theologie“ genannt worden, von anderen Autoren viele Jahrhunderte
später „Ontologie“. Wir haben eine ähnliche Unterscheidung angebracht, sie aber
nicht auf die Titulatur bezogen. Was diese betrifft, so nennt Aristoteles die
„gesuchte Wissenschaft“ anfangs „Weisheit“, dann „Erste Philosophie“,
schließlich „Theologie“. Allerdings scheint nicht ganz sicher zu sein, daß eine
jede dieser Bezeichnungen sich auf das Gesamtwerk bezieht. Denn dieses scheint
ja doch erst im Laufe von Jahren zustandegekommen zu sein (selbst wenn es bereits
von Aristoteles in seinem Gesamtumfang festgelegt worden ist). Der Titel „Erste
Philosophie“ paßt mit seiner sachlichen Neutralität leichter auf das Gesamtwerk
als der sehr spezielle Titel „Theologie“, der doch nur im Buch XII eingelöst
wird.
Unabhängig davon, ob die
Bezeichnung „Ontologie“, die erst um 1600 aufgekommen ist, damals als Titel für
das Gesamtwerk gedacht war oder nicht, ziehe ich es vor, unter „Ontologie“ eine
Forschungsrichtung zu verstehen, die zuerst im Buch IV vorgeführt wird und die
sich recht deutlich von der in den vorherigen Büchern angekündigten
Forschungsrichtung abhebt, welche auf „die ersten Gründe und Ursachen“ abzielt
und für welche die Bezeichnung „Metaphysik“ passend erscheint und welche
tatsächlich letztlich in einer Theologie ihren Abschluß finden kann.
Unter „Ontologie“ im
aristotelischen Sinn verstehe ich also die im Buch IV eingeführte
Untersuchungsrichtung, würde aber bei meinem jetzigen Kenntnisstand auch nicht
das Buch IV so titulieren. Eher tituliere ich die aristotelische Ontologie als
die im Buch IV eingeführte (um sie von eventuellen anderen zu unterscheiden,
etwa von der „kosmographischen“ Ontologie einiger gegenwärtiger Ethnologen).
Wie ich auch den sogenannten Satz vom (ausgeschlossenen) Dritten lieber als „Axiom
des Buches IV“ bezeichne.
Aristoteles fügt dieses Axiom
in die Serie der Seinsmodalitäten ein, die sich an die Wesenheit anschließen,
welche nach dem allgemeinen Gegenstand „das Seiende“ der erste Gegenstand
seiner Ontologie ist.
Wenn ich in einigen früheren
Schriften den Begriff „ontologisch“ verwendet habe, dann nicht in der
abgehobenenen, isolierten Redeweise, die Aristoteles anschlägt, sondern im Zuge
irgendeiner „Physik der Dinge bzw. Erscheinungen“, wenn mir das Hin und Her
zwischen Ding und Erscheinung, zwischen Erscheinen und Verschwinden, zwischen
Entstehen und Vergehen auffällig zu werden schien. Zum Beispiel im
Bereich des Sagens, des Schlafens und Wachens, der Farbflecken auf der
Leinwand. Da kann sogar so etwas wie Kosmogonie auftauchen – aber nicht als
Weltentstehung im Sinne des biblischen Schöpfungsberichts oder der
Urknalltheorie, sondern als Weltentstehung im Hier und Jetzt. Und so eine
fortlaufende Weltentstehungsannahme scheint sogar mit der aristotelischen
Auffassung von der Ewigkeit der Welt vereinbar. Für ihn ist die Welt „ewig“,
weil wir annehmen müssen, daß sie vor uns da war und nach uns da sein wird: von
uns aus, von unseren wenigen Lebensjahrzehnten aus gesehen (und erwartet) ist
sie offensichtlich „ewig“. Die Beständigkeitskerne in ihr sind die Wesenheiten
– die aber werden von den kontra-wesenhaften Seinsmodalitäten (wie sie in der
Ontologie dramatisch thematisiert werden) umgeben, angenagt, bedroht und sind
vorläufig wohl doch nicht ganz und gar umzubringen. Die aristotelische
Ontologie führt eine Ontodramatik ein.
Es gibt Welterhaltungskräfte –
die liegen aristotelisch in den Wesenheiten, auch in den selbständig
existierenden Wesen, wie wir welche sind. In den Wesen wirken hoffentlich
Selbsterhaltungskräfte, die sich gegen die ebenso wirksamen Verfallstendenzen
durchsetzen – jedenfalls gelegentlich, fallweise, zeitweise. In diesem Hin und
Her und Da und Dort wirkt die Ontologie „ewig“ „kosmogonisch“ „dramatisch“. Wie
in der Poetik analysiert: größere Handlungszusammenhänge, die aus vielen
kleinen Handlungswendungen, -unfällen, -wundern zusammengesetzt sind.
Demnach ist Ontologie keine
selbständige Disziplin sondern findet fallweise als ontologische Verschärfung
oder Auflösung in philosophischen Betrachtungen
unterschiedlicher Themenrichtung statt.
Was nun das Axiom des Buches
IV betrifft, so fordert es, daß die Ausdrücke, die wir beim Sprechen einsetzen,
auch beim Sprechen mit uns selber,
jeweils eine bestimme Bedeutung haben müssen. Dabei kann es durchaus vorkommen,
daß ein Wort zwei oder drei Bedeutungen hat, nicht jedoch unendlich viele. Für
die jeweilige zweite oder dritte Bedeutung kann man in der Regel auch andere
Wörter einsetzen, jedenfalls kann man sie mit zusätzlichen Wörtern erklären: z.
B. „Ontologie“ im Sinne von Buch IV oder „Ontologie“ im Sinne der Ethnologen. Doch
in der jeweiligen Wortverwendung muß die Bedeutung festliegen.
Walter Seitter
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Sitzung vom 23. April 2014