Ich komme darauf zurück, dass ich, um Aristoteles zu paraphrasieren, vom Göttlichen gesprochen habe und vom Akzidenziellen, und dass ich damit die Redeweise wiederhole oder den sprachlichen Trick, mit dem seinerzeit, im 6. Jahrhundert, die Philosophie erfunden worden ist: die Substantivierung von adjektivischen oder verbalen Ausdrücken, und zwar die Substantivierung mittels des neutralen Artikels „das“: „das Seiende“, „das Sein“, „das Gute“. Demgegenüber gab es in der mythischen Sprache davor eher „den Guten“ oder „den Höchsten“ oder „die Schöne“. Die Philosophie hat mit ihren „Hauptwörtern“ das asexuelle dritte Geschlecht gegenüber den sexuellen Geschlechtern emporgehoben und damit das Unbestimmte-Unpersönliche gegenüber individuellen, persönlichen Wesen, die in der Regel als männlich oder weiblich konnotiert werden. Es handelt sich also um eine weittragende Weichenstellung – was nicht ausschließt, dass man die beiden Redeweisen auch in einer Rede, in einer Erzählung, ja in einer Wissenschaft kombinieren kann.
Wenn nun im Buch VI das Göttliche und das Akzidenzielle sich „konträr“ zueinander verhalten, so heißt das, sie bilden auf einer Skala zwei Extreme: so wie immer und selten, notwendig und unwahrscheinlich (eigentlich: unmöglich). Analog etwa auf der Ebene des Alphabets: A und Z. Oder: sehr gut und sehr böse. Konträre Begriffe bilden einen konträren Gegensatz (logisch), konträre Qualitäten sind Gegenteile im konträren Sinn (sachlich).
Dann gibt es noch den kontradiktorischen Gegensatz wie den zwischen A und Nicht-A. Nicht-A steht für die Gesamtheit aller Buchstaben von B bis Z. Das kontradiktorische Gegenteil umfasst also viel mehr als das konträre Gegenteil: den gesamten Rest. Das kontradiktorische Gegenteil zum Notwendigen umfasst alles vom Wahrscheinlichen bis zum Unmöglichen. Das kontradiktorische Gegenteil zum sehr Guten umfasst alles vom ziemlich Guten über das Mittelmäßige bis zum Schlechten und Bösen.
Das Wort „kontradiktorisch“ oder „widersprüchlich“ oder „Widerspruch“ wird allerdings häufig in einem anderen Sinn gebraucht: im Sinn von „garantiert falsch“ und daher: unbedingt zu vermeiden. Der „Satz vom Widerspruch“ oder „vom ausgeschlossenen Widerspruch“ gebietet die Vermeidung von so etwas. Soll da der „Widerspruch“ ausgeschlossen werden? Das mag ein Wunsch von gepeinigten Eltern oder ungeduldigen Lehrern sein – hat aber mit Logik nichts zu tun. Die Logik gebietet die Vermeidung des Selbstwiderspruchs – dass man nämlich einer Sache eine Bestimmung zuspricht und zugleich und in derselben Hinsicht auch abspricht. Wer so „spricht“, tut nur so, als würde er sprechen, sagt aber nichts – stellt sich also auf die Stufe der sprachlosen Pflanzen (von sprachlosen aber simulierenden, gestikulierenden Pflanzen – wenn es die gäbe). So Aristoteles in unserem Buch 1005a 19ff. Hier sollte man also immer sagen „Selbstwiderspruch“, „selbstwidersprüchlich“ – damit man schon beim Sagen merkt, was man gerade sagt.
Die ganze Passage will klarmachen, dass es keine Wissenschaft von den Akzidenzien gibt: weil sie nur ganz selten vorkommen, sodass an ihnen kein Lernen und auch kein Lehren möglich ist. Dabei ist vorausgesetzt, dass sich Lernen und Lehren an den Objekten vollzieht und nicht etwa bloß im Lehrer-Schüler-Verhältnis. Also Lernen durch Anschauen, vermutlich auch Sprechen, wieder Anschauen, Erinnerung, Vergleichung, Erfahrung. Das gibt es nur mit Dingen, die öfter, häufig, vielleicht regelmäßig vorkommen.
Welcher Art können Akzidenzien sein? Aristoteles unterscheidet neun Arten. In unserem Text erwähnt er Eigenschaften, die an einem Ding hängen: weiß. Eigenschaften, die für bestimmte andere zur Wirkung kommen: eine unwahrscheinliche Heilwirkung, die nur für einen Kranken erscheinen kann – ein Vorkommnis. Der Schatzfund im Garten, den man als Ereignis bezeichnen kann. Damit ist man beim Gegenbegriff, den die moderne Ontologie gegen das Ding ausspielt.
Sachverhalt, Tatsache, Vorkommnis, Ereignis – bilden eine Reihe von eher modernen Kategorien, auf die hin man die aristotelischen Akzidenzien umformulieren kann. Unter denen gibt es auch solche, die „immer“ vorkommen, die Winkelsumme im Dreieck, und von der kann man bestimmt eine Wissenschaft machen: die Geometrie. Das heißt die allgemeine Aussage, es gebe keine Wissenschaft vom Akzidens, der wird von Aristoteles selber widersprochen – weil es eben so grundverschiedene Akzidenzien gibt.
Die ganz seltenen Vorkommnisse kann man entweder doch in Reihen stellen, etwa durch lange Beobachtungszeiträume, dann kann man sie auch wissenschaftlich besprechen. Oder es bleibt bei den Singularitäten – die man entweder in der Dichtung bespricht oder man erfindet einen neuen Typ von Wissenschaft eben für solche Entitäten. Das hat man im 19. Jahrhundert getan: mit den historischen Geistes- oder Kulturwissenschaften, zu denen auch die Biographie zählt, und auch die Psychoanalyse versteht sich als eine – allerdings nicht nur theoretische – Wissenschaft vom Individuum. Vorläufer waren die Exegesen von sehr wichtigen und allgemein verbindlichen Texten, die es so nur einmal gibt, nämlich der biblischen Texte, dann auch von Texten der griechisch-römischen Klassik.
Und damit sind wir bei unserer hiesigen Tätigkeit im Aristoteles-Seminar. Zwar sehe ich die Hauptlinie darin, dem aristotelischen Wissenschaftsbegriff, der sich an Regelmäßigkeit orientiert, zu folgen, und seine Sachorientierung nachzuvollziehen (soweit möglich). Aber ein zweites damit verbindbares Erkenntnisinteresse mag sich auf den Text selber, seine Vorgehensweise, seinen Charakter beziehen. Der Text als Individuum. Bestimmte Charakterzüge sind uns schon aufgefallen: eine ziemlich starke Heterogenität zwischen den bisher gelesenen sechs Büchern. Im einzelnen starke Unterschiede zwischen Aussagen zu ein und derselben Thematik. Dabei muß es sich nicht um Selbstwidersprüche handeln, sondern um Differenzen zwischen Aussagen, die ein Thema auffächern.
Im Blick, der auf den Text selber gerichtet ist, geht es darum, wie er sein sachliches Interesse verfolgt. In diesem Wie liegt die Individualität des Textes, seine „Physiognomie“. Seine „Stilistik“ – die aber doch wohl hauptsächlich durch sein Sachinteresse geprägt ist. Das Gesicht des Textes: sein Sehvermögen, seine Sehtätigkeit und gleichzeitig die Struktur seiner Sichtbarkeit.
Walter Seitter
Sitzung vom 29. März 2017
τὸ μὲν οὖν αἰσθάνεσθαι ὅμοιον τῷ ... νοεῖν.
Das Wahrnehmen nun ist ähnlich dem ... vernünftigen Erfassen.
Aristoteles (De Anima III, 7: 431a)
* * *
Donnerstag, 30. März 2017
Donnerstag, 23. März 2017
In der Metaphysik lesen (Buch VI,1026b 27 – 1027a 19)
Zunächst eine große Zweiteilung aller Dinge: die einen verhalten sich immer und notwendig auf dieselbe Weise, die anderen sind nicht notwendig oder immer oder zumeist – und bei denen liegt das Prinzip und die Ursache für so etwas wie ein Akzidens. Das heißt also bei dem, was eher selten vorkommt. Aristoteles setzt hier zwei parallel laufende Parameter ein, deren Bestimmungen von einem Extrem bis zum konträren Gegenteil gehen: vom Notwendigen über das Wahrscheinliche zum Unwahrscheinlichen (und weiter bis zum Unmöglichen) und von „immer“ über „oft“ zu „selten“ (und weiter bis „nie“). Was weder immer noch zumeist existiert, nennen wir ein Akzidens. Also das Seltene oder Unwahrscheinliche. Beispiel kaltes Wetter an den Hundstagen im Sommer. Oder weiße Hautfarbe bei Menschen – ein Beispiel, das wir am ehesten nachvollziehen können, wenn die „vornehme Blässe“ gemeint ist. Hingegen liegt die Animalität beim Menschen immer vor – als Gattungsbasis seines Wesens. Man kann sie oft und überall beobachten, sie ist gut erfahrbar und erfassbar, als immerzu gleiche oder jedenfalls ähnliche. Und ebenfalls ähnlich bei allen Tieren. Also etwas massenhaft (im quantitativen Sinn) Auftretendes.
Hingegen ist die heilende Tätigkeit bei einem Baumeister ein Akzidens – weil diese Tätigkeit nicht zu seinem Beruf gehört (dagegen ließe sich etwa einwenden, ein Baumeister kann sehr gezielt Gesundheitseffekte in ein Haus einbauen). Ähnliches Beispiel bereits in 1026b 6ff. Eine Heilwirkung, die von einem Baumeister oder einem Koch erreicht wird, beruht nicht auf einer Kunst, einem fest bestimmten Vermögen. Sie ist akzidenziell und ebenso wie ihre Ursache akzidenziell ist.
Im Buch V lasen wir von viel dramatischeren und noch selteneren Akzidenzien: vom Schatzfund im Garten und vom Reiseunglück in Richtung Ägina und da wurde die Ursache der Akzidenzien deutlicher angegeben: als Zufall, also Akzidens im gesteigerten Sinn. So als bildete das Akzidenzielle eine eigene – formale, ontologische – Region innerhalb der Realität.
Gewisse Dinge entstehen notwendig und immer, viele Dinge geschehen zumeist – und der Rest nur selten und akzidenziell. So etwa das Musisch-Werden eines Weißen (etwa weil die Vornehmen dafür kein Interesse aufbringen – aber das wäre ja schon eine sachliche Ursachenangabe, die Aristoteles eher vermeidet). Statt dessen eine pauschale Ursachenangabe, die eine andere Richtung einschlägt: die Ursache des Akzidenziellen liegt im Stoff (1027a 13), womit hier wohl das Stoffliche gemeint ist, das unbestimmt ist und sich stets anders verhalten kann; nämlich die Dimension der vier Elemente, die ihren spezifischen Bewegungen folgen und die auch ineinander übergehen können. Diese Ursachenangabe geht in Richtung Physik, kann man sagen: Kosmologie? Aber ist sie für uns nachvollziehbar?
Aristoteles stellt ausdrücklich die Frage, ob es das selten Eintreffende, also das Akzidenzielle, tatsächlich gibt. Und die Gegenfrage, ob es das Ewige gibt. Diese Frage war kurz vorher, in 1026a 10ff., zumindest hypothetisch schon beantwortet worden – und zwar mit der Einführung des Göttlichen. Das Akzidenzielle und das Göttliche bilden also zwei konträre Pole innerhalb der Realität, Aristoteles würde sogar sagen: innerhalb des Kosmos.
Jedenfalls wird jetzt wieder behauptet, dass es keine Wissenschaft vom Akzidenziellen gibt: dazu ist es zu selten oder zu flüchtig. Wissenschaft kann es nur von dem geben, was immer oder doch zumeist vorkommt. Wie sollte man das andere „lernen“, d. h. in mehreren aufeinanderfolgenden Erkenntnisschritten (induktiver oder deduktiver Art) sich klarmachen und einprägen, wie es lehrend jemandem beibringen? Aristoteles formuliert eine rhetorische Frage, wohl in der Absicht, damit seine bestimmte Behauptung zu suggerieren. Aber hat er nicht eben sowie im Abschnitt 30 von Buch V einige Lern- und Lehrschritte auf die Akzidenzien hin vorgebracht? Mit Beispielen unterschiedlichster Art, aber auch mit einigen sehr schematisch wiederholten? Zeigen nicht diese Beispiele, dass nicht alle Akzidenzien absolute Ausnahmeerscheinungen sind – und selbst diese lassen sich mit Allgemeinbegriffen bezeichnen – wie denn sonst?
Ich würde also meinen, dass Aristoteles übertreibt, wenn er die Akzidenzien aus der Wissenschaft, aus der wissenschaftlichen Erkennbarkeit, Behandelbarkeit ausschließen will. Er übertreibt nicht nur, er selber macht das Gegenteil. Allenfalls müsste man dann schauen, ob die Wissenschaft anders agieren muß, wenn sie den Akzidenzien nachgeht. Vielleicht beschreibender, erzählender, anekdotischer – historischer? Die Historiographie wird von Aristoteles immerhin als Zuträgerin für die Politik anerkannt. In der Poetik hingegen wird die Dichtkunst als philosophischere Behandlung der unwahrscheinlichen Ereignisse gewürdigt.
Walter Seitter
Sitzung vom 22. März 2017
Hingegen ist die heilende Tätigkeit bei einem Baumeister ein Akzidens – weil diese Tätigkeit nicht zu seinem Beruf gehört (dagegen ließe sich etwa einwenden, ein Baumeister kann sehr gezielt Gesundheitseffekte in ein Haus einbauen). Ähnliches Beispiel bereits in 1026b 6ff. Eine Heilwirkung, die von einem Baumeister oder einem Koch erreicht wird, beruht nicht auf einer Kunst, einem fest bestimmten Vermögen. Sie ist akzidenziell und ebenso wie ihre Ursache akzidenziell ist.
Im Buch V lasen wir von viel dramatischeren und noch selteneren Akzidenzien: vom Schatzfund im Garten und vom Reiseunglück in Richtung Ägina und da wurde die Ursache der Akzidenzien deutlicher angegeben: als Zufall, also Akzidens im gesteigerten Sinn. So als bildete das Akzidenzielle eine eigene – formale, ontologische – Region innerhalb der Realität.
Gewisse Dinge entstehen notwendig und immer, viele Dinge geschehen zumeist – und der Rest nur selten und akzidenziell. So etwa das Musisch-Werden eines Weißen (etwa weil die Vornehmen dafür kein Interesse aufbringen – aber das wäre ja schon eine sachliche Ursachenangabe, die Aristoteles eher vermeidet). Statt dessen eine pauschale Ursachenangabe, die eine andere Richtung einschlägt: die Ursache des Akzidenziellen liegt im Stoff (1027a 13), womit hier wohl das Stoffliche gemeint ist, das unbestimmt ist und sich stets anders verhalten kann; nämlich die Dimension der vier Elemente, die ihren spezifischen Bewegungen folgen und die auch ineinander übergehen können. Diese Ursachenangabe geht in Richtung Physik, kann man sagen: Kosmologie? Aber ist sie für uns nachvollziehbar?
Aristoteles stellt ausdrücklich die Frage, ob es das selten Eintreffende, also das Akzidenzielle, tatsächlich gibt. Und die Gegenfrage, ob es das Ewige gibt. Diese Frage war kurz vorher, in 1026a 10ff., zumindest hypothetisch schon beantwortet worden – und zwar mit der Einführung des Göttlichen. Das Akzidenzielle und das Göttliche bilden also zwei konträre Pole innerhalb der Realität, Aristoteles würde sogar sagen: innerhalb des Kosmos.
Jedenfalls wird jetzt wieder behauptet, dass es keine Wissenschaft vom Akzidenziellen gibt: dazu ist es zu selten oder zu flüchtig. Wissenschaft kann es nur von dem geben, was immer oder doch zumeist vorkommt. Wie sollte man das andere „lernen“, d. h. in mehreren aufeinanderfolgenden Erkenntnisschritten (induktiver oder deduktiver Art) sich klarmachen und einprägen, wie es lehrend jemandem beibringen? Aristoteles formuliert eine rhetorische Frage, wohl in der Absicht, damit seine bestimmte Behauptung zu suggerieren. Aber hat er nicht eben sowie im Abschnitt 30 von Buch V einige Lern- und Lehrschritte auf die Akzidenzien hin vorgebracht? Mit Beispielen unterschiedlichster Art, aber auch mit einigen sehr schematisch wiederholten? Zeigen nicht diese Beispiele, dass nicht alle Akzidenzien absolute Ausnahmeerscheinungen sind – und selbst diese lassen sich mit Allgemeinbegriffen bezeichnen – wie denn sonst?
Ich würde also meinen, dass Aristoteles übertreibt, wenn er die Akzidenzien aus der Wissenschaft, aus der wissenschaftlichen Erkennbarkeit, Behandelbarkeit ausschließen will. Er übertreibt nicht nur, er selber macht das Gegenteil. Allenfalls müsste man dann schauen, ob die Wissenschaft anders agieren muß, wenn sie den Akzidenzien nachgeht. Vielleicht beschreibender, erzählender, anekdotischer – historischer? Die Historiographie wird von Aristoteles immerhin als Zuträgerin für die Politik anerkannt. In der Poetik hingegen wird die Dichtkunst als philosophischere Behandlung der unwahrscheinlichen Ereignisse gewürdigt.
Walter Seitter
Sitzung vom 22. März 2017
Donnerstag, 16. März 2017
In der Metaphysik lesen (Buch VI, 1026a 33 – 1026b 26)
Wir haben festgestellt, dass die Erste Philosophie zwei deutlich unterscheidbare Richtungen einschlagen soll: eine theologische, die sich auf ein vom Kosmos aus situiertes Unbewegtes Wesen bezieht, und eine ontologische, die formale Aspekte thematisiert, die an jeglichem Seienden vorkommen. Die antike Bezeichnung des ganzen Buches, nämlich Metaphysik, scheint der ersten Richtung näher zu stehen; die zweite hingegen der Logik bzw. dem im frühen 20. Jahrhundert aufgekommenen Begriff der „Metasprache“. Die beiden Richtungen lassen sich auch so unterscheiden, dass die erste auf ein höchstes Wesen, ein superlativisches zielt, während die zweite ins Mannigfaltige geht und da vor allem niedrige Seinsmodalitäten benennt und ordnet; nämlich solche, die von Parmenides und Platon eher dem Nicht-Seienden zugerechnet, also aus dem Wirklichen ausgeschlossen worden sind. Gerhard Weinberger fragt, ob damit auch gemeint sein könnte, was man die „Phänomene“ nennt; und ich sage dazu: was man die „Erscheinungen“ nennt.
Von mir die Vermutung, dass Aristoteles mit der Berücksichtigung der niedrigen Seinsmodalitäten, mit ihrer Bewahrung vor dem Ausschluss, also mit seiner Ontologie, einen quasi-demokratischen Akt vollziehe: Rettung der niedrigen Seinsmodalitäten vor der Ausstoßung ins Nichts.
Weiterlesend stoßen wir genau auf derartige Aspekte der Ontologie: das Akzidenzielle, das Wahre und Falsche, die Kategorien (zu denen allerdings wieder die Akzidenzien zählen), möglich und wirklich. Allerdings kommt dann die Erklärung, eine wissenschaftliche Betrachtung der Akzidenzien sei nicht möglich, und der Hinweis, keine der drei Wissenschaftsrichtungen beschäftige sich mit ihnen.
Diese Erklärung überrascht, da sie die platonische Ausschließung der Akzidenzien zu wiederholen scheint, und außerdem, weil Aristoteles selber, vor allem in den Kategorien, die Akzidenzien schon ausführlich erörtert hat. Und übrigens: wo sollen denn die Akzidenzien außerhalb der Wissenschaften überhaupt behandelt oder besprochen werden? In vorwissenschaftlichen oder literarischen Beschreibungen oder Erzählungen? Wie das in der Poetik programmatisch erklärt worden ist? Wird da eine Unterscheidung zwischen wissenschaftsfähigen und nicht-wissenschaftsfähigen Sachen eingeführt?
Bleiben wir bei den Erscheinungen, so gibt es dazu zweierlei wissenschaftliche Strategien: Zurückführung auf Ursachen auf einer anderen Ebene oder aber Ordnung der Erscheinungen auf der Ebene der Erscheinungen. In Bezug auf die Farben sind das die Strategien von Newton und von Goethe.
Welcher Strategie folgt nun Aristoteles? Er verweist darauf, dass die mannigfaltigen Akzidenzien eines Hauses, seine von den Menschen unterschiedlich empfundenen Eigenschaften nicht von der Baukunst bewirkt worden seien. Von dieser stamme nur das Wesen des Hauses, das Haus an sich. Dazu wäre zu vermuten, dass die Auskunft des Aristoteles eher auf die Bauwissenschaft zutrifft als auf die Baukunst – denn diese muß dem Bau ungeheuer viel Akzidenzielles mitgeben: Auswahl des Bauortes, der Materialien, der präzisen Proportionen und Maße, der Farben usw... Hingegen geht es dem Geometer tatsächlich nur um das Wesen des Dreiecks, nicht um die Farbigkeit seiner Zeichnung. Das Akzidens sei überhaupt bloß ein „Name“ und nicht etwas Reales. Daher habe Platon es der Sophistik zugewiesen.
Es folgen ganz elementare Beispiele von akzidenziellen Beziehungen, wie sie schon öfter vorgebracht worden waren: Eigenschaften und Dinge, verschiedene Eigenschaften. Allerdings mit der etwas verwirrenden Entgegensetzung zwischen Akzidenziellem und Entstehen/Vergehen.
In 1026b 25f. dann die paradoxe Wendung. „Man muß vom Akzidens so weit als möglich klären, was seine Natur ist und aus welcher Ursache es ist. Daraus wird klar werden, weshalb es von ihm keine Wissenschaft gibt.“ Also wissenschaftliches Eingehen mit den beiden wissenschaftstypischen Kriterien – und der Aussicht auf die Unmöglichkeit dieser Wissenschaft.
Verfolgt nun Aristoteles in Bezug auf die Akzidenzien doch nicht eine „elementar-demokratischen“ Strategie? Immerhin hat er im Buch VI bereits bis 1026 b 26 dem Akzidenziellen quantitativ gesehen fast mehr Aufmerksamkeit gewidmet als dem Göttlichen.
Walter Seitter
Sitzung vom 15. März 2017
Von mir die Vermutung, dass Aristoteles mit der Berücksichtigung der niedrigen Seinsmodalitäten, mit ihrer Bewahrung vor dem Ausschluss, also mit seiner Ontologie, einen quasi-demokratischen Akt vollziehe: Rettung der niedrigen Seinsmodalitäten vor der Ausstoßung ins Nichts.
Weiterlesend stoßen wir genau auf derartige Aspekte der Ontologie: das Akzidenzielle, das Wahre und Falsche, die Kategorien (zu denen allerdings wieder die Akzidenzien zählen), möglich und wirklich. Allerdings kommt dann die Erklärung, eine wissenschaftliche Betrachtung der Akzidenzien sei nicht möglich, und der Hinweis, keine der drei Wissenschaftsrichtungen beschäftige sich mit ihnen.
Diese Erklärung überrascht, da sie die platonische Ausschließung der Akzidenzien zu wiederholen scheint, und außerdem, weil Aristoteles selber, vor allem in den Kategorien, die Akzidenzien schon ausführlich erörtert hat. Und übrigens: wo sollen denn die Akzidenzien außerhalb der Wissenschaften überhaupt behandelt oder besprochen werden? In vorwissenschaftlichen oder literarischen Beschreibungen oder Erzählungen? Wie das in der Poetik programmatisch erklärt worden ist? Wird da eine Unterscheidung zwischen wissenschaftsfähigen und nicht-wissenschaftsfähigen Sachen eingeführt?
Bleiben wir bei den Erscheinungen, so gibt es dazu zweierlei wissenschaftliche Strategien: Zurückführung auf Ursachen auf einer anderen Ebene oder aber Ordnung der Erscheinungen auf der Ebene der Erscheinungen. In Bezug auf die Farben sind das die Strategien von Newton und von Goethe.
Welcher Strategie folgt nun Aristoteles? Er verweist darauf, dass die mannigfaltigen Akzidenzien eines Hauses, seine von den Menschen unterschiedlich empfundenen Eigenschaften nicht von der Baukunst bewirkt worden seien. Von dieser stamme nur das Wesen des Hauses, das Haus an sich. Dazu wäre zu vermuten, dass die Auskunft des Aristoteles eher auf die Bauwissenschaft zutrifft als auf die Baukunst – denn diese muß dem Bau ungeheuer viel Akzidenzielles mitgeben: Auswahl des Bauortes, der Materialien, der präzisen Proportionen und Maße, der Farben usw... Hingegen geht es dem Geometer tatsächlich nur um das Wesen des Dreiecks, nicht um die Farbigkeit seiner Zeichnung. Das Akzidens sei überhaupt bloß ein „Name“ und nicht etwas Reales. Daher habe Platon es der Sophistik zugewiesen.
Es folgen ganz elementare Beispiele von akzidenziellen Beziehungen, wie sie schon öfter vorgebracht worden waren: Eigenschaften und Dinge, verschiedene Eigenschaften. Allerdings mit der etwas verwirrenden Entgegensetzung zwischen Akzidenziellem und Entstehen/Vergehen.
In 1026b 25f. dann die paradoxe Wendung. „Man muß vom Akzidens so weit als möglich klären, was seine Natur ist und aus welcher Ursache es ist. Daraus wird klar werden, weshalb es von ihm keine Wissenschaft gibt.“ Also wissenschaftliches Eingehen mit den beiden wissenschaftstypischen Kriterien – und der Aussicht auf die Unmöglichkeit dieser Wissenschaft.
Verfolgt nun Aristoteles in Bezug auf die Akzidenzien doch nicht eine „elementar-demokratischen“ Strategie? Immerhin hat er im Buch VI bereits bis 1026 b 26 dem Akzidenziellen quantitativ gesehen fast mehr Aufmerksamkeit gewidmet als dem Göttlichen.
Walter Seitter
Sitzung vom 15. März 2017
Dienstag, 14. März 2017
In der Metaphysik lesen (Buch VI, 1026a 23 – 32)
Zuletzt war ausdrücklich von den theoretischen (betrachtenden) Wissenschaften (oder Philosophien) die Rede und davon, dass sie die ehrwürdigsten sind. Wodurch unterscheiden sie sich von den anderen, den poietischen und den praktischen? Dadurch, dass sie auf kein wissenschaftsfremdes Tun (also Herstellen oder Handeln) abzielen. Sondern sich ausschließlich für ihr wissenschaftliches Tun interessieren: schauen und sagen, denken, beweisen (da sind immerhin schon mehrere Vermögen oder Tätigkeiten involviert). Das Ziel liegt allein im Wissen und womöglich in der Wahrheit. Selbstzweckhaftigkeit dieser Wissenschaften.
Diese „Reinheit“ und der hohe Rang der betrachtenden Wissenschaften hat sich speziell in der antiken Physik so ausgewirkt, dass sie sich vom Handwerk und vom Ingenieurwesen weitgehend ferngehalten hat – im Unterschied etwa von der Medizin oder der Strategik. Genau das hat sich dann in der frühen Neuzeit geändert, als das Experiment einen hohen Stellenwert in der Theorie bekam: Experiment heißt Versuchsanordnung, Eingriff, Fragestellung durch Veränderung der materiellen Bedingungen und Warten auf Reagieren der Natur; die Natur zwingen, Antworten zu geben. Die Naturbeherrschung also die Herstellung, die programmatisch zum Ziel erklärt wird, wird bereits in der Theorietätigkeit vorweggenommen, „ausprobiert“. Die Theorie selber operiert instrumentell-technisch.
In der Mathematik ist das anders – sie ist ja keine Naturwissenschaft; eigentlich ist sie die reine „Geisteswissenschaft“. Die historisch-philologischen Wissenschaften, die im Laufe des 19. Jahrhunderts entwickelt und dann „Geisteswissenschaften“ genannt wurden, haben gewissermaßen den antiken Typ „betrachtende Wissenschaften“ übernommen (auch wenn ihnen dann die „praktische“ Zwecksetzung „Bildung“ noch ein bisschen aufgeladen worden ist – aber die „betrachtende Lebensweise“ mit ihrer Autarkie galt schon in der Antike als ideale Lebensform). Wie es scheint, müssen heute die Geisteswissenschaften um ihre Existenzberechtigung, also um ihre Finanzierung kämpfen.
In 1026a 23 wird die zuvor als „theologische Philosophie“ bezeichnete Wissenschaft „Erste Philosophie“ genannt und sofort mit der Frage verknüpft, wovon sie eigentlich handelt. Drei Möglichkeiten: von Allgemeinem oder von einer Gattung oder von einer bestimmten Natur. Letzteres wäre nur möglich, wenn es überhaupt neben den natürlichen Wesen noch ein anderes Wesen gäbe. Wenn nein, wäre die Physik die erste Wissenschaft und der Materialismus, der sich in der Lehre von den Substanzen eigentlich schon angekündigt hat, wäre das letzte Wort. Wenn ja, also wenn es ein unbewegtes Wesen gibt, dann ist die Wissenschaft davon die erste und gleichzeitig ist sie die allgemeine Wissenschaft, weil jenes erste Wesen das erste von allen ist. Die obige Frage, die drei Möglichkeiten offen ließ, bekommt nun eine Antwort, die sich wieder in drei Richtungen gliedert. Diese Erste Wissenschaft ist Theologie und sie ist Ontologie in zwei Variationen: Wissenschaft vom Was des Seienden und Wissenschaft von den übrigen Bestimmungen des Seienden.
Die Folge wird zeigen, dass Aristoteles – jedenfalls im Buch VI – die Betrachtung des Ehrwürdigsten sehr schnell abtut, die Betrachtung der Unwichtigsten und Zufälligsten hingegen ziemlich ausführlich bespricht. Es scheint da eine Widersprüchlichkeit in seiner Rede zu geben.
PS.: Wolfgang Koch stellt die Behauptung auf, dass Aristoteles mit seiner geozentrischen Kosmologie den Fortschritt der Wissenschaft blockiert habe. Die pure Betrachtung hat tatsächlich bestimmte Entdeckungen verhindert – sie hat die Naturbeherrschung blockiert, weil sie sie gar nicht angestrebt hat. Die Moderne hat die Naturbeherrschung vorangetrieben – mit vielen Vorteilen für die Wissenschaft, für unsere Lebenstechnik und mit erst langsam sichtbar werdenden Nebenfolgen.
Allerdings muß man die Begrifflichkeit des Aristoteles, wenn man sie aufgreift, richtig handhaben. Die Erde ist in seiner Kosmologie unbewegt – sie ist aber kein „unbewegtes Wesen“ in seinem Sinn; sie besteht hauptsächlich aus den Elementen Erde und Wasser, die sich beide nach unten bewegen. Also müsste sie sich konsequent in einer Richtung bewegen. Tatsächlich bewegt sich der Himmelskörper Erde für Aristoteles nicht „nach unten“. Wir sagen heute, daß die Erde ihr Position relativ zu ihren Nachbarkörpern rhythmisch stabil hält. Das schließt nicht aus, dass sie sich makrokosmisch doch in einer Richtung bewegt: Gravitation oder Expansion? Eher das zweite.
Für Aristoteles war die relative Stabilität der Erde, also der Augenschein, die Anzeige dafür, dass sie sich nicht bewegt.. Im 20. Jahrhundert haben Husserl und Sloterdijk der Geozentrik - und damit dem Augenschein - eine gewisse Berechtigung zugesprochen. Aristoteles' Auffassung von den "betrachtenden Wissenschaften" beruht auf seiner Hochschätzung des Augenscheins - die ihn von Platon trennt und einem Sophisten wie Protagoras annähert. Sie nähert ihn auch den Dichtern an. Ich selber habe die Philosophische Physik zwischen der Wissenschaftlichen und der Poetischen Physik positioniert. Siehe mein Nachwort zu Francis Ponge: Der Tisch. Ein Textauszug. (Klagenfurt 2011)
Walter Seitter
Sitzung vom 8. März 2017
Diese „Reinheit“ und der hohe Rang der betrachtenden Wissenschaften hat sich speziell in der antiken Physik so ausgewirkt, dass sie sich vom Handwerk und vom Ingenieurwesen weitgehend ferngehalten hat – im Unterschied etwa von der Medizin oder der Strategik. Genau das hat sich dann in der frühen Neuzeit geändert, als das Experiment einen hohen Stellenwert in der Theorie bekam: Experiment heißt Versuchsanordnung, Eingriff, Fragestellung durch Veränderung der materiellen Bedingungen und Warten auf Reagieren der Natur; die Natur zwingen, Antworten zu geben. Die Naturbeherrschung also die Herstellung, die programmatisch zum Ziel erklärt wird, wird bereits in der Theorietätigkeit vorweggenommen, „ausprobiert“. Die Theorie selber operiert instrumentell-technisch.
In der Mathematik ist das anders – sie ist ja keine Naturwissenschaft; eigentlich ist sie die reine „Geisteswissenschaft“. Die historisch-philologischen Wissenschaften, die im Laufe des 19. Jahrhunderts entwickelt und dann „Geisteswissenschaften“ genannt wurden, haben gewissermaßen den antiken Typ „betrachtende Wissenschaften“ übernommen (auch wenn ihnen dann die „praktische“ Zwecksetzung „Bildung“ noch ein bisschen aufgeladen worden ist – aber die „betrachtende Lebensweise“ mit ihrer Autarkie galt schon in der Antike als ideale Lebensform). Wie es scheint, müssen heute die Geisteswissenschaften um ihre Existenzberechtigung, also um ihre Finanzierung kämpfen.
In 1026a 23 wird die zuvor als „theologische Philosophie“ bezeichnete Wissenschaft „Erste Philosophie“ genannt und sofort mit der Frage verknüpft, wovon sie eigentlich handelt. Drei Möglichkeiten: von Allgemeinem oder von einer Gattung oder von einer bestimmten Natur. Letzteres wäre nur möglich, wenn es überhaupt neben den natürlichen Wesen noch ein anderes Wesen gäbe. Wenn nein, wäre die Physik die erste Wissenschaft und der Materialismus, der sich in der Lehre von den Substanzen eigentlich schon angekündigt hat, wäre das letzte Wort. Wenn ja, also wenn es ein unbewegtes Wesen gibt, dann ist die Wissenschaft davon die erste und gleichzeitig ist sie die allgemeine Wissenschaft, weil jenes erste Wesen das erste von allen ist. Die obige Frage, die drei Möglichkeiten offen ließ, bekommt nun eine Antwort, die sich wieder in drei Richtungen gliedert. Diese Erste Wissenschaft ist Theologie und sie ist Ontologie in zwei Variationen: Wissenschaft vom Was des Seienden und Wissenschaft von den übrigen Bestimmungen des Seienden.
Die Folge wird zeigen, dass Aristoteles – jedenfalls im Buch VI – die Betrachtung des Ehrwürdigsten sehr schnell abtut, die Betrachtung der Unwichtigsten und Zufälligsten hingegen ziemlich ausführlich bespricht. Es scheint da eine Widersprüchlichkeit in seiner Rede zu geben.
PS.: Wolfgang Koch stellt die Behauptung auf, dass Aristoteles mit seiner geozentrischen Kosmologie den Fortschritt der Wissenschaft blockiert habe. Die pure Betrachtung hat tatsächlich bestimmte Entdeckungen verhindert – sie hat die Naturbeherrschung blockiert, weil sie sie gar nicht angestrebt hat. Die Moderne hat die Naturbeherrschung vorangetrieben – mit vielen Vorteilen für die Wissenschaft, für unsere Lebenstechnik und mit erst langsam sichtbar werdenden Nebenfolgen.
Allerdings muß man die Begrifflichkeit des Aristoteles, wenn man sie aufgreift, richtig handhaben. Die Erde ist in seiner Kosmologie unbewegt – sie ist aber kein „unbewegtes Wesen“ in seinem Sinn; sie besteht hauptsächlich aus den Elementen Erde und Wasser, die sich beide nach unten bewegen. Also müsste sie sich konsequent in einer Richtung bewegen. Tatsächlich bewegt sich der Himmelskörper Erde für Aristoteles nicht „nach unten“. Wir sagen heute, daß die Erde ihr Position relativ zu ihren Nachbarkörpern rhythmisch stabil hält. Das schließt nicht aus, dass sie sich makrokosmisch doch in einer Richtung bewegt: Gravitation oder Expansion? Eher das zweite.
Für Aristoteles war die relative Stabilität der Erde, also der Augenschein, die Anzeige dafür, dass sie sich nicht bewegt.. Im 20. Jahrhundert haben Husserl und Sloterdijk der Geozentrik - und damit dem Augenschein - eine gewisse Berechtigung zugesprochen. Aristoteles' Auffassung von den "betrachtenden Wissenschaften" beruht auf seiner Hochschätzung des Augenscheins - die ihn von Platon trennt und einem Sophisten wie Protagoras annähert. Sie nähert ihn auch den Dichtern an. Ich selber habe die Philosophische Physik zwischen der Wissenschaftlichen und der Poetischen Physik positioniert. Siehe mein Nachwort zu Francis Ponge: Der Tisch. Ein Textauszug. (Klagenfurt 2011)
Walter Seitter
Sitzung vom 8. März 2017
Donnerstag, 2. März 2017
In der Metaphysik lesen (Buch VI, 1026a 20 – 23)
Zum Thema der Erkennbarkeit des Guten wird nachgetragen, dass sie nur dann gegeben ist, wenn die Frage nach dem Guten spezifiziert wird, also auf bestimmte Arten des Guten und dann auch auf konkrete Fälle eingeschränkt wird. Wenn es um die ethische Güte geht, die eine menschliche Qualität ist, muß diese Qualität sowohl durch entsprechende Sensibilität wie durch ein differenziertes Vokabular erfasst werden. Bloße Gewohnheiten oder Traditionen können da nur konventionelle Übereinstimmung herstellen. Auch bei der genannten Qualität geht es um Wahrnehmung, um feines Gespür, um Unterscheidungsvermögen und so können Urteile zustande kommen, die auf Zustimmung hoffen können – bei solchen mit ähnlich ausgebildeter Sensibilität. Wozu die fünf Sinne und eventuell noch ein sechster oder siebenter beizutragen haben. Daher lautet das aristotelische Motto der Hermesgruppe: wahrnehmen ist so etwas Ähnliches wie vernünftig erfassen.
Dann zu dem zuletzt gelesenen Passus, wo Aristoteles gewisse äußerste kosmische Entitäten, wenn es sie überhaupt gibt (!) zum Gegenstand der dritten, sachlich gesehen der ersten theoretischen Wissenschaft erklärt. Und er ernennt sie zu Ursachen, ewigen Ursachen für die Erscheinungen der Göttlichen (diese wohl nicht persönlich aufgefaßt, wie Gerhard Weinberger, heute unser Gast, richtig vermutet – womit sowohl die griechische Volksreligion wie die monotheistischen Offenbarungsreligionen ausgeschlossen sind).
Jetzt bekommt die dritte, eigentlich die erste der betrachtenden Philosophien, eine Bezeichnung: sie wird die „theologische“ genannt. Und ihr Gegenstand, das Göttliche, wird wieder rein hypothetisch eingeführt: wenn irgendwo vorhanden, dann in einer solchen Natur. Wird es damit einfach der Natur zugeordnet, für die die Naturkunde, also die Physik, zuständig ist? Dann wäre es auf den Rang der Naturkunde herabgesetzt. Oder doch der Natur, welche die äußerste Grenze des Kosmos darstellt? Dann wäre auch verständlich, warum diese Wissenschaft, jetzt wieder Wissenschaft, den höchsten Rang zugesprochen bekommt: aufgrund ihres Gegenstandes wie auch aufgrund ihres eigenen Niveaus. Den höchsten Rang innerhalb der betrachtenden Wissenschaften, die ihrerseits über den praktischen und den poietischen Wissenschaften stehen (Wolfgang Koch sagt, dass von denen die poietischen Wissenschaften höher stehen).
Und nun wird auch der zweite Satz eingeschoben, der direkt dem Göttlichen gewidmet ist und der dem Göttlichen wiederum äußerst wenig zuspricht: nämlich das „wenn überhaupt“ und zweitens die Einordnung in „eine solche Natur“. Und drittens wird dem Göttlichen auch eine Qualität zugeschrieben: der Superlativ von „ehrenvoll“, „kostbar“ – „wichtig“(?).
Diese Annäherung an das Göttliche ist äußerst vorsichtig und trotz des genannten Superlativs doch eher minimalistisch. Sie geht von der Naturkunde aus, die mit vergänglichen Körperteilen illustriert wird; dann von der Mathematik, der bereits das Unbewegte zugeordnet wird; dann geht sie zum äußersten Rand des Kosmos über, zu ewigen Ursachen für die Erscheinungen – des Göttlichen. Und dieses sehr entfernte und nur hypothetisch mit Existenz ausgestattete Göttliche, das zwischen Erscheinen und Darüberhinaus oszilliert ... Es oszilliert epistemologisch und wohl auch ontologisch zwischen Stärke und Schwäche. Immerhin meine ich, dass dieses Oszillieren zu seiner Erkennbarkeit, auch zu seinem Charakter gehört. Ist diese aus knappen Sätzen zusammengesetzte aristotelische Darlegung nachvollziehbar? – Ja, aber mitsamt ihrer offen erklärten Darlegungsschwäche. Schwierige Nachvollziehbarkeit – aber immerhin.
Dieses Göttliche, ein substantiviertes Adjektiv, bezeichnet etwas Qualitätsartiges, ähnlich wie das Gute; das Substanzhafte, das ihm zugeschrieben wird, bleibt ohne Profil. Nun tritt es aber über den Superlativ von timios direkt ins Bedeutungsfeld „gut“ ein, von dem ich gesagt habe, dass es verständlich, intelligibel, nachvollziehbar ist. Die Nachvollziehbarkeit des aristotelischen Göttlichen bleibt eine sehr gebrochene.
Daher liegt hier etwas anderes vor als eine große Verkündigung – die man glauben soll. Im Anschluß wird dann auch gleich die Benennung der dritten betrachtenden Wissenschaft als Theologie in Frage gestellt.
Walter Seitter
Sitzung vom 1. März 2017
Dann zu dem zuletzt gelesenen Passus, wo Aristoteles gewisse äußerste kosmische Entitäten, wenn es sie überhaupt gibt (!) zum Gegenstand der dritten, sachlich gesehen der ersten theoretischen Wissenschaft erklärt. Und er ernennt sie zu Ursachen, ewigen Ursachen für die Erscheinungen der Göttlichen (diese wohl nicht persönlich aufgefaßt, wie Gerhard Weinberger, heute unser Gast, richtig vermutet – womit sowohl die griechische Volksreligion wie die monotheistischen Offenbarungsreligionen ausgeschlossen sind).
Jetzt bekommt die dritte, eigentlich die erste der betrachtenden Philosophien, eine Bezeichnung: sie wird die „theologische“ genannt. Und ihr Gegenstand, das Göttliche, wird wieder rein hypothetisch eingeführt: wenn irgendwo vorhanden, dann in einer solchen Natur. Wird es damit einfach der Natur zugeordnet, für die die Naturkunde, also die Physik, zuständig ist? Dann wäre es auf den Rang der Naturkunde herabgesetzt. Oder doch der Natur, welche die äußerste Grenze des Kosmos darstellt? Dann wäre auch verständlich, warum diese Wissenschaft, jetzt wieder Wissenschaft, den höchsten Rang zugesprochen bekommt: aufgrund ihres Gegenstandes wie auch aufgrund ihres eigenen Niveaus. Den höchsten Rang innerhalb der betrachtenden Wissenschaften, die ihrerseits über den praktischen und den poietischen Wissenschaften stehen (Wolfgang Koch sagt, dass von denen die poietischen Wissenschaften höher stehen).
Und nun wird auch der zweite Satz eingeschoben, der direkt dem Göttlichen gewidmet ist und der dem Göttlichen wiederum äußerst wenig zuspricht: nämlich das „wenn überhaupt“ und zweitens die Einordnung in „eine solche Natur“. Und drittens wird dem Göttlichen auch eine Qualität zugeschrieben: der Superlativ von „ehrenvoll“, „kostbar“ – „wichtig“(?).
Diese Annäherung an das Göttliche ist äußerst vorsichtig und trotz des genannten Superlativs doch eher minimalistisch. Sie geht von der Naturkunde aus, die mit vergänglichen Körperteilen illustriert wird; dann von der Mathematik, der bereits das Unbewegte zugeordnet wird; dann geht sie zum äußersten Rand des Kosmos über, zu ewigen Ursachen für die Erscheinungen – des Göttlichen. Und dieses sehr entfernte und nur hypothetisch mit Existenz ausgestattete Göttliche, das zwischen Erscheinen und Darüberhinaus oszilliert ... Es oszilliert epistemologisch und wohl auch ontologisch zwischen Stärke und Schwäche. Immerhin meine ich, dass dieses Oszillieren zu seiner Erkennbarkeit, auch zu seinem Charakter gehört. Ist diese aus knappen Sätzen zusammengesetzte aristotelische Darlegung nachvollziehbar? – Ja, aber mitsamt ihrer offen erklärten Darlegungsschwäche. Schwierige Nachvollziehbarkeit – aber immerhin.
Dieses Göttliche, ein substantiviertes Adjektiv, bezeichnet etwas Qualitätsartiges, ähnlich wie das Gute; das Substanzhafte, das ihm zugeschrieben wird, bleibt ohne Profil. Nun tritt es aber über den Superlativ von timios direkt ins Bedeutungsfeld „gut“ ein, von dem ich gesagt habe, dass es verständlich, intelligibel, nachvollziehbar ist. Die Nachvollziehbarkeit des aristotelischen Göttlichen bleibt eine sehr gebrochene.
Daher liegt hier etwas anderes vor als eine große Verkündigung – die man glauben soll. Im Anschluß wird dann auch gleich die Benennung der dritten betrachtenden Wissenschaft als Theologie in Frage gestellt.
Walter Seitter
Sitzung vom 1. März 2017
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