τὸ μὲν οὖν αἰσθάνεσθαι ὅμοιον τῷ ... νοεῖν.

Das Wahrnehmen nun ist ähnlich dem ... vernünftigen Erfassen.

Aristoteles (De Anima III, 7: 431a)

* * *

Donnerstag, 23. März 2017

In der Metaphysik lesen (Buch VI,1026b 27 – 1027a 19)

Zunächst eine große Zweiteilung aller Dinge: die einen verhalten sich immer und notwendig auf dieselbe Weise, die anderen sind nicht notwendig oder immer oder zumeist – und bei denen liegt das Prinzip und die Ursache für so etwas wie ein Akzidens. Das heißt also bei dem, was eher selten vorkommt. Aristoteles setzt hier zwei parallel laufende Parameter ein, deren Bestimmungen von einem Extrem bis zum konträren Gegenteil gehen: vom Notwendigen über das Wahrscheinliche zum Unwahrscheinlichen (und weiter bis zum Unmöglichen) und von „immer“ über „oft“ zu „selten“ (und weiter bis „nie“). Was weder immer noch zumeist existiert, nennen wir ein Akzidens. Also das Seltene oder Unwahrscheinliche. Beispiel kaltes Wetter an den Hundstagen im Sommer. Oder weiße Hautfarbe bei Menschen – ein Beispiel, das wir am ehesten nachvollziehen können, wenn die „vornehme Blässe“ gemeint ist. Hingegen liegt die Animalität beim Menschen immer vor – als Gattungsbasis seines Wesens. Man kann sie oft und überall beobachten, sie ist gut erfahrbar und erfassbar, als immerzu gleiche oder jedenfalls ähnliche. Und ebenfalls ähnlich bei allen Tieren. Also etwas massenhaft (im quantitativen Sinn) Auftretendes.

Hingegen ist die heilende Tätigkeit bei einem Baumeister ein Akzidens – weil diese Tätigkeit nicht zu seinem Beruf gehört (dagegen ließe sich etwa einwenden, ein Baumeister kann sehr gezielt Gesundheitseffekte in ein Haus einbauen). Ähnliches Beispiel bereits in 1026b 6ff. Eine Heilwirkung, die von einem Baumeister oder einem Koch erreicht wird, beruht nicht auf einer Kunst, einem fest bestimmten Vermögen. Sie ist akzidenziell und ebenso wie ihre Ursache akzidenziell ist.

Im Buch V lasen wir von viel dramatischeren und noch selteneren Akzidenzien: vom Schatzfund im Garten und vom Reiseunglück in Richtung Ägina und da wurde die Ursache der Akzidenzien deutlicher angegeben: als Zufall, also Akzidens im gesteigerten Sinn. So als bildete das Akzidenzielle eine eigene – formale, ontologische – Region innerhalb der Realität.

Gewisse Dinge entstehen notwendig und immer, viele Dinge geschehen zumeist – und der Rest nur selten und akzidenziell. So etwa das Musisch-Werden eines Weißen (etwa weil die Vornehmen dafür kein Interesse aufbringen – aber das wäre ja schon eine sachliche Ursachenangabe, die Aristoteles eher vermeidet). Statt dessen eine pauschale Ursachenangabe, die eine andere Richtung einschlägt: die Ursache des Akzidenziellen liegt im Stoff (1027a 13), womit hier wohl das Stoffliche gemeint ist, das unbestimmt ist und sich stets anders verhalten kann;  nämlich die Dimension der vier Elemente, die  ihren spezifischen Bewegungen folgen und die auch ineinander übergehen können. Diese Ursachenangabe geht in Richtung Physik, kann man sagen: Kosmologie? Aber ist sie für uns nachvollziehbar?  

Aristoteles stellt ausdrücklich die Frage, ob es das selten Eintreffende, also das Akzidenzielle, tatsächlich gibt. Und die Gegenfrage, ob es das Ewige gibt. Diese Frage war kurz vorher, in 1026a 10ff., zumindest hypothetisch schon beantwortet worden – und zwar mit der Einführung des Göttlichen. Das Akzidenzielle und das Göttliche bilden also zwei konträre Pole innerhalb der Realität, Aristoteles würde sogar sagen: innerhalb des Kosmos.

Jedenfalls wird jetzt wieder behauptet, dass es keine Wissenschaft vom Akzidenziellen gibt: dazu ist es zu selten oder zu flüchtig. Wissenschaft kann es nur von dem geben, was immer oder doch zumeist vorkommt.  Wie sollte man das andere „lernen“, d. h. in mehreren aufeinanderfolgenden Erkenntnisschritten (induktiver oder deduktiver Art) sich klarmachen und einprägen, wie es lehrend jemandem beibringen? Aristoteles formuliert eine rhetorische Frage, wohl in der Absicht, damit seine bestimmte Behauptung zu suggerieren. Aber hat er nicht eben sowie im Abschnitt 30 von Buch V einige Lern- und Lehrschritte auf die Akzidenzien hin vorgebracht? Mit Beispielen unterschiedlichster Art, aber auch mit einigen sehr schematisch wiederholten? Zeigen nicht diese Beispiele, dass nicht alle Akzidenzien absolute Ausnahmeerscheinungen sind – und selbst diese lassen sich mit Allgemeinbegriffen bezeichnen – wie denn sonst?


Ich würde also meinen, dass Aristoteles übertreibt, wenn er die Akzidenzien aus der Wissenschaft, aus der wissenschaftlichen Erkennbarkeit, Behandelbarkeit ausschließen will. Er übertreibt nicht nur, er selber macht das Gegenteil. Allenfalls müsste man dann schauen, ob die Wissenschaft anders agieren muß, wenn sie den Akzidenzien nachgeht. Vielleicht beschreibender, erzählender, anekdotischer – historischer? Die Historiographie wird von Aristoteles immerhin als Zuträgerin für die Politik anerkannt. In der Poetik hingegen wird die Dichtkunst als philosophischere Behandlung der unwahrscheinlichen Ereignisse gewürdigt.


Walter Seitter

Sitzung vom 22. März 2017

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen