τὸ μὲν οὖν αἰσθάνεσθαι ὅμοιον τῷ ... νοεῖν.

Das Wahrnehmen nun ist ähnlich dem ... vernünftigen Erfassen.

Aristoteles (De Anima III, 7: 431a)

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Donnerstag, 30. November 2017


In der Metaphysik lesen (BUCH VII (Z), 1031b 3 – 28)
                                             

In 1031a 30 bis 1031b 18 wird die platonische Lehre vom Wesen referiert und problematisiert – jedenfalls eine, von der sich Aristoteles absetzt und die er mit den „Ideen“ assoziiert, die er „irgendwelchen“ unterstellt. Er scheint also von der platonischen „Ideenlehre“ zu sprechen.

Ich habe geschrieben, das Gute, das Lebewesen, das Seiende (1031a 32) - seien nach Aristoteles die platonische Erfindung. Nicht etwa kommen diese Begriffe nur bei Platon vor, wohl aber setzt nur Platon sie zu einer solchen Reihe zusammen. Bei Aristoteles wird das Gute zu einer Ursache (982b 10, 983a 32)), das Lebewesen ist bei ihm die zentrale Realitätssorte, das Seiende ist bei ihm der Fundamentalbegriff der Ontologie (noch vor allen Kategorien). Im aristotelischen Platon-Referat ist jeder dieser Begriffe dadurch gekennzeichnet, dass der einfache Begriff verschieden ist von seiner Zusammensetzung mit dem Infinitiv „sein“ und dass außerdem immer noch ein anderes Wesen, eine andere Natur und Idee, nämlich eine frühere, vorausgesetzt ist. Also ein dreifaches Auseinandersein kennzeichnet eine jede dieser Entitäten – zu denen  noch das Eine und das Schöne dazugenannt werden. Womit der Eindruck vervollständigt wird, es handle sich um platonische Ideen. Auch um die „speziellen“ platonischen Ideen.

Diese sind ja dann vor allem in der deutschen Klassik um 1800 zur Triade des Wahren, Schönen und Guten zusammengefasst worden (und am 14. Dezember 2016 habe ich sie in mein Philosophisches Manifest aufgenommen). Daher wird denn jetzt auch gefragt, ob das Wahre ebenfalls genannt werden müsste. Man kann diese Frage bejahen, es gibt bei Platon Stellen, die sich in diesem Sinne verstehen lassen. Etwa Phaidros 247c ff.:  „überhimmlischer Ort“ mit der „Rede von der Wahrheit“, vom „wirklich seienden Wesen“, „Ort des Geschlechts des wahren Wissens“, „Wissen in dem, was wirklich seiend ist“, „Gefilde der Wahrheit“ ....

Und Aristoteles nennt im Buch I der Metaphysik die Wahrheit als diejenige Instanz, welche die Philosophen zwingt, die Suche nach den Prinzipien weiterzutreiben (984b 9).

In dem nun gelesenen Text lässt sich Aristoteles zwischendurch doch darauf ein, dass man das Gute und die benachbarten Eigenschaften auch verselbständigen kann – aber dann müsste man ihr  Auseinandersein aufheben, das bei Platon methexis heißt: also Mithabe, Teilhabe, Abhängigkeit. Man müsste sie „komprimieren“, zur Koinzidenz von Was-ist und Das-da bringen. Man müsste die „Aus(einander)setzung“, die in der philosophischen Erkenntnistätigkeit unvermeidlich ist und die Platon anscheinend verfestigt hat, rückgängig machen. Man müsste die Sachen zur „Re-koinzidenz“ führen.[1]

Daß man Eigenschaften wie „gut“, „schön“ mit einem Wesen wie „Lebewesen“ und sogar mit dem präkategorialen „seiend“ in eine Reihe stellt, das will Aristoteles  zunächst nicht einleuchten. Aber er verschließt sich nicht ganz und gar dieser Sicht und baut sie in seine Ursachenlehre ein.


Und in einer längeren Klammerpassage wiederholt Aristoteles dann aus den vorhergehenden Abschnitten die Ansicht, dass die Differenzbehauptung in Bezug auf Wesen und gewöhnliche Eigenschaften wie „weiß“ und „musisch“ sehr wohl aufrechterhalten werden muss, womit der hierarchische Primat der Wesensbestimmung neuerlich betont wird. Eine Koinzidenz wäre nach Aristoteles  insofern zu bejahen, als man  den Vorgang des Weiß-werdens in Betracht zieht. (1031b 28, 1037b 17). Das würde heißen: der Prozess könnte die Abgehobenheit des Wesens relativieren.

Walter Seitter


Sitzung vom 29. November 2017




  
[1] Mit diesem Ausdruck drehe ich die „De-koinzidenz“ um, mit der François Jullien das Leben vom Sein abhebt, aber auch dem platonischen „Ort der Ideen, Gefilde der Wahrheit“ eine Funktion bei der Mobilisierung des Lebens zuspricht. Siehe  François Jullien: Vivre en existant. Une nouvelle Éthique (Paris 2016): 127, 201ff. Für den Hinweis danke ich Gerhard Weinberger.





Nächste Sitzung am 6. Dezember 2017



Montag, 27. November 2017

Kommentar zu Buch VII.6

von Wolfgang Koch


Aristoteles' schwieriger Begriff des TEE (das Wesen-Was, das Wesen der Sache) führt zu einem logischen Regressproblem. Ist das TEE selbst ein Wesen, wenn man es von seinem Ding abtrennen kann? Besitzt es ein substanzielles Sein wie Platons Idee? Aristoteles lässt die Antwort darauf offen und macht damit das TEE zu einem schwachen Kandidaten für das Substrat. Man könnte auch sagen, ja: das Wesen-Was eines Elefanten existiert durchaus auch unabhängig von seiner Klassifikation als indisch oder afrikanisch, unabhängig von seinem Eigenschaften wild oder zahm zu sein, die Definitionsleistung des TEE, die das Ding mit einer Kategorie aus der wissenschaftlichen Systematik und mit Eigenschaften aus den Seinsmodalitäten verbindet, führt ein begriffliches Eigenleben jenseits der konkreten Tierwelt, ohne aber aus einem Elefanten je mehr als ein abstraktes Elefant-Sein machen zu können. Was sich hier schlagend einstellt, ist das Bewusstsein, dass es die Sprache ist, die das Substrat zum Ausdruck bringt, nicht die Person, die darum ringt. (WK)

Meines Erachtens führt der Begriff "Wesen" nicht zu einem Regressproblem, sondern eröffnet  mehrere Denkmöglichkeiten. Drei davon sind die sokratische, die ihn erfunden hat, die platonische, die aristotelische. Obwohl es sich um eine sehr theoretische Frage handelt, hat sie bei Sokrates und Platon direkt politische Gründe. Die werden von Aristoteles eher verschwiegen. Aber seine strikte Trennung zwischen theoretischen und praktischen Wissenschaften wird ausgerechnet in der Ersten Philosophie brüchig, wie ich behaupte. Die Frage ist, ob die Unterscheidung zwischen Wesensbestimmung und Zusatzbestimmung plausibel ist. Ob es also in den Dingen - egal in welchen - so eine Hierarchie gibt. (WS)


W. Koch

Sonntag, 26. November 2017



Lieber Walter,

hier Angemerktes zu Buch VII.6:

Der Lehrer fragt: »Wieviel sind drei Äpfel und zwei Äpfel?« Wenn nun seine Schüler keine Antwort geben, sondern allerlei Gegenfragen stellen, was tut er dann? »Sind es grüne oder rote Äpfel? Sind es gegessene Äpfel? Muss man die erst pflücken? Was, wenn zwei davon Birnen sind? Die Fruchtsaft-Industrie ist doch bekannt dafür, dass sie schlechte Löhne zahlt...« Wenn sich die Diskussion in dieser Weise entwickelt und immer weiter von der gestellten Aufgabe entfernt, wird der Lehrer mal mahnend eingreifen müssen, und sagen »Bitte, es geht hier nicht um die Äpfel als solche! Ihr könnt auch Steine oder Ziegel nehmen. Drei Steine und zwei Steine sind wieviel? Wer weiss das?«
Genauso verhält es sich mit dem Beispiel des »Weisser-Mensch-Sein« im Vergleich zum »Mensch-Sein« in den Substanzbüchern. Wer da über Rassismus diskutieren will, über Anthropozentrik oder die Sonnenbrillen der Griechen, verlässt leichtfertig das Textverständnis, verweigert sich dem Gesagten. Der Text wird auf eine Weise zum Sprechen gebracht, die ein hemmungsloses Gerede zur Folge hat, das zu nichts führt. Wer mit dem zweifellos Mitgesagten des beispielhaften Objekts »Weisser-Mensch« nicht klarkommt, der ersetze es einfach durch etwas Ähnliches. Ein »Afrikanischer-Elefant-Sein« und das »Elefant-Sein« erfüllen denselben Zweck, nämlich ein Spezialproblem der Begriffsbestimmung des TEE anschaulich zu machen. Oder eine »Ramponierte-Raumfähre-Sein« und das »Raumfähren-Sein«. Was auch immer.
Aristoteles' schwieriger Begriff des TEE (das Wesen-Was, das Wesen der Sache) führt zu einem logischen Regressproblem. Ist das TEE selbst ein Wesen, wenn man es von seinem Ding abtrennen kann? Besitzt es ein substanzielles Sein wie Platons Idee? Aristoteles lässt die Antwort darauf offen und macht damit das TEE zu einem schwachen Kandidaten für das Substrat. Man könnte auch sagen, ja: das Wesen-Was eines Elefanten existiert durchaus auch unabhängig von seiner Klassifikation als indisch oder afrikanisch, unabhängig von seinen Eigenschaften wild oder zahm zu sein, die Definitionsleistung des TEE, die das Ding mit einer Kategorie aus der wissenschaftlichen Systematik und mit Eigenschaften aus den Seinsmodalitäten verbindet, führt ein begriffliches Eigenleben jenseits der konkreten Tierwelt, ohne aber aus einem Elefanten je mehr als ein abstraktes Elefant-Sein machen zu können. Was sich hier schlagend einstellt, ist das Bewusstsein, dass es die Sprache ist, die das Substrat zum Ausdruck bringt, nicht die Person, die darum ringt.

My best

w.

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In der Metaphysik lesen (BUCH VII (Z), 1031a 29 – 1031b 2)


Eingangs erinnere ich an eine Unterscheidung,  die ich im Laufe der letzten Jahre vorgeschlagen habe, um das, was in diesem Buch gesagt wird, besser ordnen zu können.

Die Ontologie beschäftigt sich mit Seinsmodalitäten, die formale Aspekte sein sollen, welche sich durch die gesamte Realität durchziehen. Sie sind von Aristoteles unter der Bezeichnung „Kategorien“ gesammelt worden, dann aber durch solche Bestimmungen wie „Entstehen“, „Vergehen“, „Akt“, „Potenz“ ergänzt worden; neulich hat er auch die „Bewegung“ dazu genannt. Die wichtigsten sind für ihn das „Wesen“ und die neun Akzidenzien. 

Hingegen sind die  Realitätssorten Gegenstand der normalen Wissenschaften wie Physik, Ethik, Poetik. Solche Realitäten sind die Körper mitsamt den Seelen, etwa die Tiere. Und die Menschen. Sowie die menschengemachten Sachen wie Kunstwerke, Staaten. Und deren Eigenschaften und Tätigkeiten. Die Begriffe „Eigenschaft“ und „Tätigkeit“ sind jedoch Kategorien und bezeichnen Seinsmodalitäten.

Wohlgemerkt, das ist eine Art Meta-Unterscheidung, eine von mir gemachte. Die beiden Ebenen lassen sich unterscheiden – aber nicht trennen. Im Buch VII geht es zunächst um die Seinsmodalität „Wesen“  mit ihren zwei Aspekten, dann mit ihrem Verhältnis zu den Akzidenzien. Nun aber stellt Aristoteles eine Hypothese vor, derzufolge bei den Wesen das Was-ist und das Das-da voneinander getrennt sind.

Das ist die platonische Hypothese und laut Aristoteles lautet sie so: es gibt irgendwelche Dinge nämlich „frühere Wesen oder Naturen namens Ideen“, denen Wesen nicht zukommt, sodaß von ihnen Wissenschaft nicht möglich ist, und andererseits gibt es  Wesen, die gar nicht sind. Also Dinge ohne Wesen und Wesen ohne Sein. Und in diesem Auseinanderklaffen stehen einander gegenüber: das Gute selbst und das Gut-sein, das Lebewesen und das Lebewesen-sein, das Seiend-sein und das Seiende.

Diese drei paradoxen Entitäten, das Gute, das Lebewesen, das Seiende, sind die platonische Erfindung. Auch bei Aristoteles ist das Lebewesen der Prototyp des Wesens – andere Wesen sind die einfachen Körper oder die Himmelskörper (oder der Gott). Bei Platon sind dem Lebewesen das Gute und das Seiende parallelgeschaltet – während bei Aristoteles „gut“ eine Eigenschaft ist und „seiend“ etwas Flexibles, das als Wesen oder als Eigenschaft oder als Relation .... auftritt. Die drei platonischen „Wesen“ (es gibt noch mehr davon) sind jeweils total auseinandergerissen zwischen Wesen und Sein. Aristotelische Wesen sind jeweils die Koinzidenz von Was-ist und Das-da.

So erscheint hier der Unterschied zwischen platonischer und aristotelischer Ontologie. Wir sind auf diesen Unterschied schon öfter zu sprechen gekommen und haben ihn anders formuliert: Stufenontologie bei Platon: Urbild und Abbild; Kompositionsontologie bei Aristoteles: Individuum aus Form und Materie.


Walter Seitter

Sitzung vom 22. November  2017



Nächste Sitzung am 29. November 2017

Montag, 20. November 2017

In der Metaphysik lesen (BUCH VII (Z), 1031a 19 – 28)

  
Nachdem nun geklärt ist, dass die beiden Versionen des Wesens, das Was-ist und das Das-da, zwar unterscheidbar sind, aber zusammengehören, fragt Aristoteles, wie es sich mit den akzidenziellen Bestimmungen verhält. Er sagt, bei denen  scheinen die beiden Aspekte verschieden zu sein – doch verwendet er nun eine etwas andere Sprache, eine mit Infinitiven: „weißer Mensch“ (a) sei etwas anderes als „weißer Mensch sein“ (b) . Entspricht (a) dem Was-ist und (b) dem Das-da? Und sind die beiden so verschieden wie „Mensch  sein“ und „weißer Mensch sein“  - obwohl dieses Paar eine andere logische Struktur aufweist als das erste. Hier liegt einerseits der innere Unterschied offen zutage – andererseits wird er in der üblichen Rede der Leute gern verwischt. Aristoteles distanziert sich nun von einer unbedachten Redeweise, die es mit den Eigenschaften gar nicht genau nimmt. Aber er insistiert darauf, dass zwei Eigenschaften, wenn sie an selben Wesen vorkommen, deswegen keineswegs zusammenfallen. Wenn es auch vorkommt, dass weiße Menschen musisch sind (oder kultiviert), ist das „weiß  sein“ und das „musisch“ oder „kultiviert sein“ noch lange nicht dasselbe.

Auch dieses Beispiel hatten wir schon öfter und wir haben uns gefragt, ob Aristoteles da ein Rassenmerkmal im Auge hat. Gerade wenn das der Fall ist, kann in der Aussage eine Stoßrichtung gegen den Rassismus gesehen werden. Auch schon bei der Abweisung der Redeweise, wonach das „Mensch sein“ und das „weißer Mensch sein“ dasselbe sind.

Dieselbe Stoßrichtung in dem schon öfter zitierten Satz, wonach kein Mensch menschlicher ist als irgendein anderer. Allerdings können diese Aussagen schwerlich als explizite Stellungnahmen politischer Art gewertet werden, sondern eher als ganz beiläufige Feststellungen von Selbstverständlichem.

Wenn ich sie dennoch in der genannten Richtung bewerte, dann deswegen, weil in der Gegenwart mit größter „Selbstverständlichkeit“ scharfe Menschen-Diskriminierungen auch von solchen vollzogen werden, denen man sie gar nicht zutrauen möchte. Vor kurzem bedachte jemand im Philosophen-Café  irgendwelche vielleicht fragwürdigen Zeitgenossen ganz explizit mit dem Titel „Unmenschen“. Und der von mir geschätzte Intellektuelle Karl Lagerfeld hat sowohl den Namen wie auch das Porträt eines wegen sexueller Übergriffe in die Kritik geratenen Filmregisseurs mit dem eigentlich unschuldigen „Schwein“ verunglimpfen wollen.

Walter Seitter

Sitzung vom 15. 11. 2017



Nächste Sitzung am 22. November 2017