τὸ μὲν οὖν αἰσθάνεσθαι ὅμοιον τῷ ... νοεῖν.

Das Wahrnehmen nun ist ähnlich dem ... vernünftigen Erfassen.

Aristoteles (De Anima III, 7: 431a)

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Freitag, 20. Mai 2022

In der Metaphysik lesen (1079b 20 – 34)

 Mittwoch, am 18. Mai 2022


Auch der Leser muß aktiv mitgestalten an dem, was der Schreiber zu Papier bringt … Wird der Leser aktiv, erwacht das Gespräch …  er blickt dem Gesicht der Geschichte ins Auge. (Siegward Sprotte)

 

 

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Eingangs kommt Maximilian auf seine frühere Äußerung zurück, die Metaphysik könnte die Wissenschaft vom Unvorstellbaren sein. Eine solche Gegenstandsangabe ist ganz und gar negativ.

 

Immerhin setzt sie das Vorstellbare noch als das Positive, das sie negiert. 

 

Vorstellung könnte man als eine immaterielle  Tätigkeit bezeichnen. Doch diese setzt für ihre Erzeugung und für ihr Bestehen einiges voraus: den physiologischen und psychischen Apparat, den wir mit „ich“ bezeichnen. 

Egal, wie wir ihn bezeichnen, indem wir ihn bezeichnen, gehen wir bereits übers Vorstellen hinaus – zum Sprechen, das sich auf eine Sache bezieht oder beziehungsweise und bei einer anderen Person etwas erreichen will, nämlich das Zuhören.

 

Damit sind wir bei einer materiellen Tätigkeit, die sich am oder im Körper vollzieht, in einem bestimmten Körperteil und von da aus in die Außenwelt zu anderen Körpern vorstößt. Insofern die Tätigkeit mit einer Absicht verbunden ist und bestimmte Mittel zur Erreichung eines Zweckes einsetzt, haben wir damit schon zwei oder drei Gegenstandsfelder ins Auge gefaßt, welche für Aristoteles die Felder für einige erste Wissenschaften darstellen: die Physik als theoretische Wissenschaft von den Körpern; die poietischen Wissenschaften vom oder besser gesagt zum Anfertigen erwünschter Dinge (Sätze, Getränke); die praktischen Wissenschaften, die sich mit den sogenannten sozialen Beziehungen beschäftigen.

Im Verhältnis zu diesen Wissenschaften stellt sich die Metaphysik bei Aristoteles als eine späte, ja eine letzte Unternehmung heraus, die offensichtlich nicht fertig geworden ist. Der deutlichste Hinweis darauf liegt in einer inneren Unordnung des Textes, der immanent als „Theologie“ bezeichnet wird - doch kaum mehr als ca. 10 Seiten sind diesem Thema gewidmet; überwiegend werden logische Probleme abgehandelt, die als Aspekte des Seienden überhaupt dargestellt werden (und deshalb später als „Ontologie“ bezeichnet worden sind).

Selbst dieses Werk wird zunächst nicht „Philosophie“ genannt, sondern ebenfalls „Wissenschaft“ – und zwar als „gesuchte Wissenschaft“: also eine prekäre Wissenschaft. Diese Suche ist wohl irgendwie vorangekommen – aber nicht zu einem abschließenden Ende. Das sehen wir jetzt im Buch XIII, wo Aristoteles sich noch einmal mit seinem Lehrer Platon herumschlägt.

 

Allerdings wird der Inhalt dieses Werks dann doch „Philosophie“ genannt, und sogar „Erste Philosophie“ – eine Rangbezeichnung, die andeutet, daß da von den „ersten“ Dingen gehandelt wird, von den primären Ursachen, von dem, was „vorausgesetzt“ werden muß: als primäres angenommen, aber nachträglich als  solches gesetzt: denknotwendige Bestandteile aller Dinge, Initialimpuls für alle Dinge. Was aber in unserer Erfahrung, auch in unserer Wissenschaftsordnung, auch in der heutigen, nicht im Vordergrund steht.

 

Das sogenannte „Schwarze Loch“ ist ja auch erst vor kurzem erstmals theoretisch und dann photographisch uns bekannt geworden. Ob Aristoteles, wenn er davon erfährt, es als „Erstes Phänomen“ einschätzen würde, das lasse ich dahin gestellt. Falls es sich um einen Schatten handelt, wäre es kein Erstphänomen in seinem Sinne, bestenfalls ein erstes Zweites. 

 

Und da das Gesamtwerk nicht fertig geschrieben worden ist, ist es schlechterdings unmöglich, es „fertig zu lesen“. Diese Unmöglichkeit sollten wir beim Weiterlesen realisieren. Eine Methode hierfür besteht im Einschub des etwas chaotischen Hermann von Kärnten (12. Jahrhundert). Eine andere würde darin liegen, zumindest Teile der Physik nachzulesen, um zu sehen, wie in diesem etwas früheren Buch der Weg zum Unbewegt-Bewegenden (UB) aussieht.

Die Unfertigkeit der aristotelischen Metaphysik (als Verlauf) könne man graphisch etwa mit so einer Figur andeuten, die ich nicht zeichnen kann, mit dem Computer schon gar nicht: 

 

links kommen aus einem sich öffnenden Winkel  zwei Linien hervor, deren untere rhythmisch sich leicht absenkt und wellenförmig nach rechts weiterläuft, während die andere Linie nach oben steigt,  wieder absinkt und dann mehrmals wieder ansteigt, dann steil ansteigt und eine imposante Figur hinzeichnet und dann nach rechts eine Kadenz sucht, um sich mit der unteren Linie zu treffen und zum Abschluß zu kommen.

Jedoch: die beiden Linien, der Grundton und der Oberton finden nicht zusammen, beide hören plötzlich auf und lassen das Ende offen

 

 

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Nun wieder zu unserem Buch XIII. Gegen die Ideenlehre seines Lehrers Platon behauptet Aristoteles, daß die Dinge zu ihrem Existieren und zu ihrem Sosein keine Urbilder brauchen, an denen sie teilhaben. 

Sie brauchen zu ihrem Entstehen Erzeuger, im Fall von Menschen sind das die Eltern, vielleicht auch die Lehrer, aber wenn sie erzeugt sind, dann bestehen sie. Ebenso wie ihre Eltern haben sie ein Wesen sowie Eigenschaften, sie enthalten Möglichkeiten und aktivieren diese, sie sind „eine“ und sie sind zusammengesetzt und sie sind Gegenstand von Aussagen, die wahr sein können. Wenn sie Urbilder hätten, die extra existieren, müßten sich diese vermehren, weil der Mensch wie angedeutet, aus Bestandteilen zusammengesetzt ist: Gattung, Art, Eigenschaften – und dann müßte es jeweils eigene Urbilder geben und der platonische Ideenhimmel, in dem es ja nur ewige Urbilder gibt, würde an Übervölkerung leiden.

 

Man kann sagen, daß Aristoteles die Vermehrung von Entitäten, die man seit jeher den Philosophen zum Vorwurf macht, eingrenzen will.

 

Walter Seitter

 

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