τὸ μὲν οὖν αἰσθάνεσθαι ὅμοιον τῷ ... νοεῖν.

Das Wahrnehmen nun ist ähnlich dem ... vernünftigen Erfassen.

Aristoteles (De Anima III, 7: 431a)

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Freitag, 6. Mai 2022

In der Metaphysik lesen (1079b 4 – 23)

 

4. Mai 2022

 

Zur Wissenschaftsklassifikation, die ich ins letzte Protokoll hineingeschrieben habe, macht Sophia Panteliadou einige Anmerkungen, die von der Darstellung herrühren, die Otfried Höffe vorgelegt hat. Diese stimmt natürlich im Sachlichen, unterschlägt aber einige aristotelische Eigenheiten, deren Beachtung zum Verständnis des von uns gelesenen Textes beitragen kann. 

 

Eine jahrhundertelange Tradition hat Aristoteles als „Philosophen“ festgeschrieben, der noch dazu für viele der heute gängigen philosophischen Teildisziplinen zuständig sein soll. Tatsächlich operiert seine Wissensordnung (also die klassifikatorische Ausarbeitung seiner Erkenntnispolitik) zunächst mit dem Begriff „Wissenschaft“, der von Anfang an in den Plural gesetzt wird – so sehr, daß schließlich gar nicht alle wissenschaftlichen Disziplinen in einem bestimmten Teilgebiet der Philosophie Platz finden können. 

 

Die theoretischen Wissenschaften, die unabhängig vom Menschen existierende Dinge oder Entitäten zu erkennen haben, werden von Aristoteles in einer bestimmten Reihenfolge genannt, die sich von den Gegenstandsbereichen her bestimmt: die Physik hat es mit bewegtem und abtrennbarem, die Mathematik mit unbewegtem und nicht abtrennbarem, die Theologie mit unbewegtem und abtrennbarem Seienden zu tun. Die Physik, zuständig für die wahrnehmbaren Körper, gilt als Basiswissenschaft; die Theologie, die nach dem primären Bewegungsimpuls sucht, bekommt den Ehrentitel „Erste Philosophie“, die Physik daraufhin den Titel „Zweite Philosophie“. Als Wissenschaft ist sie die erste, weil uns Menschen nächste, als Philosophie immerhin die zweite. Die Mathematik geht auf dieser Ebene leer aus (vielleicht zur Enttäuschung der Platoniker, der hartnäckigen).

 

Die praktischen und die poietischen Wissenschaften, die von dem handeln, was vom menschlichen Tun abhängt und einmal so und einmal so ausfallen kann, werden als „Philosophie der menschlichen Angelegenheiten“ zusammengefaßt, sind also noch menschennäher als die Physik. 

 

Die praktischen Wissenschaften beschränken sich nicht auf Ethik und Politik. Sie umfassen auch die Ökonomik, also die Lehre vom Haushalten; die Rhetorik, für die man heute die Publizistik einsetzen kann (Medien als „Vierte Gewalt“); die Strategik, also die Wissenschaft zum Kriegführen (welches nach Clausewitz eine Fortsetzung der Politik ist, nach Arendt aber das Scheitern der Politik). 

 

Was das Lesen der Metaphysik so schwierig und langwierig macht, das liegt hauptsächlich daran, daß Aristoteles das angebliche Hauptthema, die Theologie, nicht klar von der Hauptmasse seiner Ausführungen, der Ontologie, unterscheidet.

 

Wie Sophia Panteliadou bemerkt, hat Aristoteles schon vor der Metaphysik die Physik ausgearbeitet und zu Ende geführt und am Ende dieser Vorlesung kommt er schon da auf das Unbewegt-Bewegende. 

 

Ist in diesem Buch der Weg zum UB ein anderer als in der Metaphysik? Ist das UB selber hier anders gefaßt als in der Metaphysik? Zu dieser Frage möchte Sophia Panteliadou in den kommenden Wochen peu à peu Stellung beziehen. Damit könnte aus dem  Weiterlesen in der Metaphysik ein Sich-Hineinbohren in die Sache werden.

 

 

Im Buch XIII weiterlesend sehen wir, daß Aristoteles die Frage stellt, welchen Erkenntnisgewinn es bringt, wenn man den Kreis, also eine geometrische Flächenfigur (wovon bereits die Rede war), als „Idee“ im platonischen Sinn konzipiert. Aber er verwendet nicht das Wort „Idee“, womit er sich klarer ausdrücken würde, sondern stattdessen das Wort “eidos“, das im aristotelischen Vokabular so etwas wie Form oder Art heißt. Zur Steigerung der Unklarheit spricht er von einer „gewissen Natur“ des Kreises; meint damit aber nicht die Natur im Sinn der Physik, sondern eine irgendwie andere.

 

Was ist eine „Idee“ im platonischen Sinn? Nicht eine Idee im modernen Sinn - da gibt es solche Ideen wie den Nationalismus oder den Sozialismus (vermutlich gibt es mehrere davon). Aber was sind solche Ideen? Es sind politische Wunschvorstellungen für die einen, eher politische Feindbilder für die anderen. Es sind menschengemachte Vorstellungen. Keine platonischen Ideen, denn die sind ja - für die Platoniker - Urbilder, die bekannten Dingen oder Eigenschaften wie Pferd oder Gerechtigkeit zugrundeliegen, die als höchst real angenommen werden und irgendwie in einem Himmel situiert werden. Sie sind für die Augen nicht sichtbar, und dennoch eigentlich sehr sichtbar („idea“ heißt „Sicht“) - für die Ideenschau, über die man nur verfügt, wenn man sie sich angelernt und eingeübt hat. 

 

Im folgenden wird das ein bißchen klarer. Da spricht Aristoteles von Sinnesdingen, von denen die einen ewig sind, die anderen vergänglich. Die ewigen sind die Sterne, die vergänglichen sind die Pflanzen, Tiere, Menschen, Häuser. Weder die einen noch die anderen haben mit „Ideen“ etwas zu tun. Aristoteles: die Dinge brauchen keine Ideen, um zu einer Veränderung zu gelangen, und die Wissenschaften brauchen keine Ideen, um irgendetwas an den Dingen zu erklären. Da die Ideen nicht in den Dingen sind (wie etwa das Wesen), können sie an ihnen nichts bewirken. Ein weißes Pulver, das ich in ein Wasser gebe, bewirkt immerhin, daß das Wasser weißlich wird. Eine Idee kann das nicht. So macht sich Aristoteles über die „Idee“ lustig: wirkungslos, unwirklich, überflüssig, Denkfehler.

 

 

Walter Seitter

 

Nächste Sitzung am Mittwoch, 11. Mai 2022, Hermann-Lektüre

 

 

PS.: Nachtrag zur Praktischen Philosophie in der Gegenwart:

 

Buchpräsentation in der Universität Wien, Hauptgebäude, HS 3

 

Donnerstag, 12. Mai 2022, 17 Uhr:

 

UM MENSCH UND RECHT. DER BEITRAG VON RENÉ MARCIC ZUR MENSCHENRECHTSBILDUNG

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