Mein jüngster
Berlin-Aufenthalt sollte nicht ungeschrieben und unkommentiert in die
Vergangenheit entschwinden. Daher hier ein paar tagebuchartige Bemerkungen.
Donnerstag, 6. Dezember
Um 9 Uhr früh Ankunft in
Berlin. Schnee und Schneetreiben. Sofort ins Literaturhaus in der
Fasanenstraße, einen der schönsten Orte in Berlin, den ich vor allem vom
sommerlichen Garten her kenne. Heute Ausblick in den verschneiten Garten, mit
etwas Sonnenschein. Gespräch mit Christian Bertram und Horst Ebener über La
monnaie vivante, vor allem das seinerzeitige Zustandekommen des Buches, die
Anteile von Pierre Klossowski und Pierre Zucca. Erholung
vom Frühflug, bis 14 Uhr.
Ausstellung „Schinkel:
Geschichte und Poesie“ im Kupferstichkabinett (neben der heiß umkämpften
Gemäldegalerie). Karl Friedrich Schinkel (1781-1841), ein „Gesamtkünstler“, der
mit seinem überwiegend klassizistischen (aber auch romantischen und
„nationalen“) Profil wesentlich zum modernen Preußen beigetragen hat, in einer
Zeit, in der sich Österreich kulturell eher zurückgehalten hat. Immerhin war
seine Entdeckerlust so groß, daß er auch unsere Gegenden aufgesucht hat: 1803
Fußmarsch nach Schöngrabern und Wien (dann weiter bis Süditalien); 1811
nachgeholte Hochzeitsreise nach Salzburg und Berchtesgaden. Sein Philhellenismus
gipfelte in einem Entwurf für einen gigantischen, ja megalomanischen
Königspalast auf der Athener Akropolis, der dort oben das gesamte Gelände
zwischen den Tempeln mit Palast und Gärten ausgefüllt und den Anblick von unten
stark verändert hätte. Wie ist dieser – nicht ausgeführte - Entwurf
einzuschätzen? Soweit wir wissen, war die Akropolis in „klassischer“ Zeit nur
Tempelbezirk (allerdings von hohen Festungsmauern umgeben). Irgendwann in
vorklassischer Zeit muß aber auch diese Akropolis vornehmlich Palast und
Festung getragen haben. Insofern hätte Schinkels Entwurf eine archäologische
Berechtigung gehabt, aber .... Den Königspalast hat dann der Münchener Leo
Klenze (1784-1864) herunten in der Stadt gebaut: heute Parlamentsgebäude und
Zielpunkt der griechischen Klagen und Anklagen, Demonstrationen und
Ausschreitungen.
Abends zur
Großveranstaltung „Bonds: Schuld, Schulden und andere Verbindlichkeiten“ im
Haus der Kulturen der Welt. Gespräch über Korruption, gegen die alle sind und
die munter fortlebt. Aber was ist Korruption?
Später Abend Abendessen in
der Paris Bar, die ich aus den Siebziger- und Achtzigerjahren, also aus
Jacob-Taubes-Zeiten kenne. Dort meine elementare Typologie der
Wirtschaftsformen: Mutterwirtschaft und Marktwirtschaft. In der ersten gibt A
den b, c, d das, was diese brauchen. In der zweiten geben und nehmen A, B, C usw.
voneinander und miteinander. Die zwei Typen („Idealtypen“ im Sinne von Max
Weber) unterscheiden sich radikal voneinander – und zwar nicht kontradiktorisch
sondern konträr. Folglich kann es auch verschiedene Mischtypen geben. Etwas
Logik schadet nicht beim Reden über die Realität. Vermutlich „muß“ es beide
Typen geben und man muß nicht den einen im Namen des andern verteufeln.
Freitag, 7. Dezember
Mit Horst Ebner besuche ich
die Ausstellung „Mythos Olympia. Kult und Spiele“. Eine gigantische und sozusagen
vollständige Ausstellung – auch für jemanden wie mich, der vor zweieinhalb
Jahren zwei Wochen lang in Olympia war und „alles“ gesehen hat. Wiederum das
merkwürdige Phänomen, daß das regelmäßige Stattfinden von „Frauenspielen“ zwar
erwähnt, aber in keinster Weise näher geschildert wird. Die tatsächlichen
Verhältnisse scheinen also einigermaßen symmetrisch (zwischen den
Geschlechtern) gewesen sein, aber die Verkündigung, das Prestige war recht
einseitig verteilt.
Am Nachmittag auf der
Schulden-Konferenz ein vierstündiger „Staffellauf“ mit 15 Theoretikern (jeweils
in der Doppelrolle von Interviewer und Interviewtem). Am Abend eine dramatische
Aufführung nach einem Theorie-Buch: Die Ökonomie von Gut und Böse (München
2012) von dem Ökonomie-Professor Tomáš Sedláček. Seine Methodik: ökonomische
Bücher religiös lesen, religiöse Bücher ökonomisch lesen.
Samstag, 8. Dezember
Vormittag ein kleiner
Bataille-Workshop. Ich treffe Rita Bischof, der ich meinen Wiener Vortrag über La
monnaie vivante zugeleitet hatte. Zu den dort wiedergegebenen Passagen aus
Klossowskis Nachlaß sagt sie: das Beste, was Klossowski geschrieben hat. Auf
der Schulden-Konferenz Lesung von Aris Fioretos aus seinem neuen Roman Halbe
Sonne. Eine Auseinandersetzung zwischen Sohn und Vater mit dem scherzhaften
Hauptbegriff „Repaparatur“, d. h. Vater-Reparatur. Vielleicht eine Alternative
zu „Ödipus“ (Vatermord) – aber auch zu „Anti-Ödipus“ (und dessen
Aggressivität). Anschließend Vortrag von Sigrid Weigel, die der 68-er Generation
(zu der auch sie gerade noch gehört) einen moralischen Reinheits-Totalitarismus
vorhält. Daraufhin Diskussion zwischen ihr und Fioretos – auch über die
deutsch-griechischen Schuld(en)-Schiebungen. Ich melde mich zu Wort und
skizziere eine Diagnose der griechischen Situation: in Griechenland vor dreißig
Jahren mit Brüsseler Hilfe Stillegung einer funktionierenden altmodischen
Wirtschaft (mit Rosinen-, Tabakfabriken ...), Bau von Autobahnen, Import von
Luxuslimousinen. Was dazu führt, daß in Griechenland (wo seinerzeit die
abendländische Begriffskultur erfunden worden ist) die soziologischen Begriffe
„postindustrielle Gesellschaft“, „Konsumgesellschaft“ in voller Reinheit
verwirklicht sind (was sich zunächst recht gut angefühlt hat). Fioretos zu mir:
ich teile Ihre Analyse.
Am Abend Vortrag von Marcel
Hénaff: „Kosmische, symbolische und finanzielle Schulden“. Drei Stadien: Antike
mit prekärer Balance, Neuzeit mit Grenzenlosigkeit, Moderne mit Thermodynamik,
d. h. irreversibler Entropie. Ich: wir leben immer noch in der „Antike“: es
gibt auch die Kräfte der Negentropie, die Differenz, Information steigern, z.
B. animalisches Wachstum, kulturelle Leistungen. Jedenfalls „bei uns“ hängt es
von uns ab, ob diese Kräfte immer wieder erstarken. Hénaff gibt mir grundsätzlich
recht. Zum Abendessen suchen wir zunächst ein Lokal auf, in dem ein echter
Klossowski hängt. Folgeerscheinung: es gibt dort nur ein Menü; der Preis steht
kleingedruckt ganz unten .... Wir wechseln in die „Trattoria Maria“ mit
herrlicher Pizza. Funktionierende Marktwirtschaft. Weder Mutter- noch
Vater-Zwang.
Ich habe auf der
Schulden-Konferenz keineswegs alle Veranstaltungen, Vorträge usw. besucht, kann
also kein Gesamturteil abgeben, will das auch gar nicht. Stattdessen meine
Formulierung für die vermutete Wurzel der Krise (die sich keineswegs auf
Griechenland beschränkt). Die Wurzel heißt „Zuviel Geld“ (was leider auch zur
Folge hat, daß es manchenorts zu wenig Geld gibt). Die Formel „Zuviel
Geld“ paßt auch zur Entropie-Dominanz. Denn zuviel von einer Realitätssorte
oder Qualität (ob Geld, Wasser, Wärme ...) bedeutet automatisch eine
Differenz-Schwächung. In Delphi war auch die Inschrift „Nichts zuviel!“
angebracht. Die Mißachtung dieses Gebots steigert die Entropie. Im übrigen
scheint mir die Empfehlung „Abschaffung des Geldes“ keineswegs eine Lösung zu
versprechen (sie würde wohl zu zuviel Gefühl und dergleichen führen).
Sonntag, 9. Dezember
Den ganzen Tag heftiges
Schneetreiben. Neues Museum: Echnaton und Nofretete und Sonne: neue (oder
erste?) Dreifaltigkeit, bald abgeschafft. Alte Nationalgalerie: schon wieder
Schinkel: auch Gotiker, Romantiker, Maler ... Ephraim-Palais: Johannes Grützke:
ein Berliner Kraft-Maler.
Montag, 10. Dezember
Im Merve Verlag Gespräch
mit Tom Lamberty: Klossowski-Edition mittelgroß oder ganz groß? Akzidentien
oder Akzidenzien? In der Villa Einstein Treffen mit Peter Berz, der vor kurzem
in Linz einen Vortrag hielt, in dem er seine Aristoteles-Heidegger-Lektüre in
Richtung „Sachen“ und Naturwissenschaften vorantrieb. Inzwischen hat er auch
unsere letzten Protokolle gelesen und freut sich über die Konvergenz der
Denkbewegungen. Wobei er in seine Philosophie der Biologie auch Helmuth
Plessner einbezieht, vor allem dessen einschlägiges Hauptwerk, die 1928
erschienenen Stufen des Organischen und der Mensch. Wir sprechen darüber, daß
dieses Buch zunächst im Schatten eines Scheler-Plagiat-Vorwurfs stand; viel
wichtiger aber die Tatsache, daß es auf Dauer in den Schatten von Heideggers Sein
und Zeit geraten ist. Auch Peter Berz meint, daß man heute Heidegger mit
Plessner parallel-lesen muß, um Heidegger aus dem Raunen herauszubringen und
„jetzig“ lesen zu können. Das ist auch die Richtung, die mit dem Wien des
frühen 20. Jahrhunderts angezeigt ist.
Wieder im Literaturhaus, wo
Claudia Schmölders einen Literaturtreff organisiert. Ich habe sie im September
auf der Tagung der Plessner-Gesellschaft in Wiesbaden näher kennengelernt, wo
wir beide versucht haben, den Plessnerianern die Sache mit dem Griechentum
näherzubringen.
WALTER SEITTER
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