Nachtrag zum Berliner
Protokoll
Mit Peter Berz komme ich
auf meinen Wiener Vortrag zu La monnaie vivante zu sprechen und erwähne,
daß ich Klossowskis Weglass-Operation als „Beschneidung“ oder „Zirkumzision“
bezeichne. Und nicht mit dem modischen psychoanalytischen brutalen Begriff
„Kastration“; es gibt viele Arten von Schneiden, Zuschneiden, Wegschneiden ...
In der Filmproduktion ist das Schnittwesen eine wesentliche Produktionsphase.
Oder man denke an die wichtige Funktion „Ausschneiden“ im Word-Programm, mit
dem dieses hier geschrieben wird.
Am Dienstag im Deutschen
Historischen Museum eine riesige Informationen-Aufstellung zur Geschichte
Deutschlands vom Jahre 0 bis zum Jahre jetzt. Die wenigen Jahre der DDR sind
natürlich inkludiert, die vielen Jahrhunderte Österreichs ebenso. Aus dem Jahr
1594 stammt die Deutschland-Karte von Mercator. Die heute als „Hallein“
bekannte salzburgische Stadt heißt dort „Hellel“ – abgesehen vom ersten e
entspricht das der seinerzeitigen Aussprache (die ich in der Nachkriegszeit
noch gehört habe). Mit dem Filmemacher Manfred Hulverscheidt besuche ich das
Tieranatomische Theater aus dem Jahre 1794. Dieser palladianische Zentral- und
Kuppelbau, auch „Zootomie“ genannt, diente der Präsentierung von frisch geschlachteten
Tieren, hauptsächlich Pferden, auf einem großen runden Tisch, der aus dem
Untergeschoß in den Hörsaal hinaufgehoben wurde. Luxus für die Wissenschaft.
Anatomie: Aufschneidung, Auseinanderschneidung, Auseinanderfaltung. Anschließend
noch ein Treffen mit Christian Bertram im Literaturhaus. Nächtlicher Flug nach
Wien.
*
Zu den letzten Protokollen,
die sich von Aristoteles etwas entfernen und den Spannungsbogen zwischen
Heidegger und dem Wien des frühen 20. Jahrhunderts thematisieren.
Die große
Philosophie-Verweigerung Österreichs, die bis zum Ende des 19. Jahrhunderts
konsequent durchgehalten worden ist, dürfte ihren Hauptgrund darin haben, daß
in Österreich die intellektuelle Energie hauptsächlich in Richtung Kunst
geleitet worden ist: Theater, Musik, Oper. Daneben gab es immer wieder Perioden
mit funktionierender Naturwissenschaft, die aber nie zu einer stabilen
Wissenschaftskultur führten. Das Fach Philosophie mußte aus traditionellen
Gründen unterrichtet werden, was die Jesuiten so besorgten, daß die Philosophie
als „reine Philosophie“ den Status leeren Geredes innehatte. Eine Änderung trat
zunächst in der Mitte des 18. Jahrhunderts ein: Einführung der Medizin
außerhalb der Universität: von da an war Wien eine Hauptstadt dieser Disziplin
– mit der Psychologie als Anhängsel. Erst im 19. Jahrhundert berief man
angesehene Philosophieprofessoren aus Deutschland, zuletzt Franz Brentano
(1838-1917) (in Wien bis 1895) (seine Richtung konnte sich mit Alexius Meinong
(1853-1920) in Graz besser halten).
Der große Umschwung wurde
dadurch eingeleitet, daß Österreich in den letzten Jahrzehnten des 19.
Jahrhunderts den Anschluß an die internationale Wissenschaftskultur, und zwar
in allen Disziplinen, fand, womit der Grund für eine bodenständige Genese von
Philosophie bereitet wurde. Die hatte zwar auch dann noch mit Schwierigkeiten
zu kämpfen – doch auch diese gehörten zum Milieu eines sozusagen „ersten
Philosophie-Anfangs“ – der immer nur aus Wissenschaftskultur hervorgehen kann.
Siehe Physik als „Grundbuch“ der abendländischen Philosophie.
Diese Bemerkungen eröffnen
nicht nur einen „Sprung“ von Aristoteles zum Schicksal der Philosophie in
Österreich, also bei uns, also zu uns, denn es geht ja darum, daß wir selber,
hier und jetzt philosophieren. Was allerdings ohne Umsicht auf die Geschichte
der Philosophie (und Nicht-Philosophie) nicht möglich erscheint und da ist
jetzt endlich auch die Dimension der Geographie der Philosophie einzuziehen.
Wozu wir keine neuen Lehrstuhlbezeichnungen wie „Europäische Philosophie“ und
„Interkulturelle Philosophie“ brauchen. Die Geographie beginnt mit kleinen
topographischen Differenzierungen wie: zwischen Universität Wien und
Universität für angewandte Kunst, zwischen Wien und Linz, zwischen Österreich
und Deutschland usw.
Philosophiegeschichtlich
ist das Gefälle zwischen Deutschland und Österreich (das politisch bis 1866 zu
Deutschland gehört hat) enorm – deswegen hat Heidegger das zeitgenössische
Österreich überhaupt nicht wahrgenommen. Der Abstand wirkt bis heute nach. So
bekommt der Wiener Philosoph Wolfgang Pircher zu seinem 65. Geburtstag eine
Festschrift, die in einem deutschen Verlag erscheint und von deren drei
Herausgebern zwei Deutsche sind. Der Abstand kann also auch überbrückt werden.
So weit so gut.
Die Gründung des
„Arbeitskreises österreichische Philosophie“ können wir dann im nächsten Jahr
erörtern, das den etwas widerspenstigen, also passenden Namen „2013“ trägt.
Jetzt zurück zur
Aristoteles-Lektüre. Die 11. Aporie bekommt einen immanenten Superlativ
zugesprochen, sie ist nämlich die aporetischste: ob nämlich das Eine und das
Seiende nicht Unterschiedenes sind (so Platon und die Pythagoräer), daß sie
vielmehr das Wesen der Seienden sind – oder ob das Substrat der Dinge etwas
anderes ist: Liebe/Freundschaft (so Empedokles) oder Feuer, Wasser, Luft (wie
jemand anderer meint)?
Den Anfang dieses
Fragesatzes haben wir unrichtigerweise als eigene Frage aufgefaßt und als
solche diskutiert; das war gegenüber dem griechischen Text eine etwas zu
fleißige Fleißaufgabe – was aber nicht schadet, weil es ja darum geht, daß wir
selber denken, auch wenn der gelesene Autor es nicht unbedingt verlangt. Hier
werden also das Eine und das Seiende als selbig vorausgesetzt und die Frage geht
dahin, ob dieses sehr formalistische Selbe in den Rang einer ontologischen
Ursache, hier Wesenheit, der Seienden, also wohl aller Seienden, zu setzen ist.
Oder ob eine andere Ontologie vorzuziehen ist, wonach qualitative oder
stoffliche Größen als Substrat anzusetzen sind, und zwar als Substrat aller
Dinge. Diese Alternative erscheint doch einigermaßen verständlich, behandelt
wird sie erst später. Warum aber gilt sie als die schwierigste und
aporetischste?
WALTER SEITTER
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