Wir gehen auf
das Buch IV zurück und ich behaupte (in teilweiser Übereinstimmung mit
Gianluigi Segalerba), dass da zwei verschiedene Sachen gemacht werden. In
Abschnitt 1 und 2 wird die Betrachtungsweise begründet, die dann die
Bezeichnung „Ontologie“ bekommen hat. In den Abschnitten 3 bis 8 wird das Axiom
eingeführt und langwierig verteidigt, das zumeist als „Satz vom Widerspruch“
benannt wird. Dieses Axiom tritt als Postulat, als Imperativ, als Gebot bzw.
Verbot auf, das einerseits als selbstverständlich gelten kann, andererseits mit
großer Hartnäckigkeit verteidigt wird.
Die Begründung
der Ontologie oder ihre Erfindung wird mit dem Grundsatz von der mannigfachen
Aussagung des Seienden eingeleitet (nach Segalerba eine „Kriegserklärung an
Parmenides“ – allerdings ohne jeden bellizistischen Ton) und mit der Nennung
einiger Seinsmodalitäten fortgesetzt. In dieser relativ kurzen Passage
versteigt sich Aristoteles allerdings auch schon zu einer scharfen Polemik;
doch im Großen und Ganzen handelt es sich um einen Gründungsakt: es werden zehn
oder zwölf Seinsmodalitäten genannt, von denen eine, die Substanz, mit einem
Primat ausgestattet wird. Die übrigen stellen Modifikationen dar, tendenziell
schwächere Modifikationen, aber sie bekommen ihren Platz in dieser
„Gesellschaft“. Es handelt sich bei jeder Modalität um eine eigenartige
„Version“, um eine „Wendung“, um ein bestimmtes „wie“ des Seins. Ich greife
zwei Beispiel heraus: die Relation und das Mögliche.
Wie sieht es
mit den „Existenzweisen“ bei Bruno Latour aus? Angeblich gibt es deren 15. Zwei
davon: Politik, Literatur.
Sie liegen
zweifellos auf anderen Ebenen als die aristotelischen Modalitäten. Es handelt
sich um Institutionen, die ihren Platz in der Gesellschaft ohne
Anführungszeichen haben, sie haben sogar bestimmte Adressen in der Stadt. Aber
den Modalitätencharakter haben sie mit den aristotelischen Bestimmungen
gemeinsam: sie verkörpern gewisse Umgangsformen, gewisse Formalismen.
Endlich gehen
wir zur Lektüre von Abschnitt 29 über, zum Stichwort „falsch“. Falsch ist
entweder ein Sachverhalt wie die kommensurable Diagonale oder aber dein Sitzen
(in dem Moment, in dem du stehst) (1024b 17ff.). Also Sachverhalte, die so
nicht bestehen, nicht existieren. Falsch sind auch bestehende Sachverhalte, die
ihrer Natur nach nicht so erscheinen, wie sie sind, oder aber etwas anderes,
was sie nicht sind, erscheinen lassen (hier nennt Aristoteles die
„Schattenmalerei“ und die Träume). Also die Verweigerer von richtigem
Erscheinen und die Falscherscheinungen (auch Anschein, Schein, bloßer
Schein).
Was könnte mit
den Sachen gemeint sein, die sich weigern, richtig zu erscheinen? Etwa die
Natur, die es liebt, sich zu verbergen (Heraklit)? Oder alle festkörperlichen
Dinge, von denen man nur die äußere Hülle sieht, welche alles zudeckt
(Seitter)? Das wäre dann arg viel.
„Schattenmalerei“
hieß in der Antike die Illusionsmalerei, die auf zweidimensionalen Flächen
dreidimensionale Realität suggeriert. Der Ausdruck „Skiagraphie“ steht
sprachlich der „Photographie“ gegenüber, die mit anderen Mitteln Gleiches
bewirkt. Und die Träume? Sie sind so „täuschend echt“, dass man sie erst im
Nachhinein vom echten Erleben unterscheiden kann.
Diese
Unterscheidungen lassen natürlich auch an die Dinge denken, die „richtig“
erscheinen, das Erscheinen also sachgemäß leisten. Aristoteles setzt zweifellos
voraus, dass es diese Dinge gibt und dass sie den Regelfall bilden: den
Regelfall der Wahrnehmung. Er würde wohl sagen, dass alle Dinge in irgendeiner
Weise erscheinen müssen und man daher „erscheinen“ in den Rang einer Kategorie
heben könnte.[1]
Oder gar in den höheren Rang einer Transzendentalie – wie wahr, schön, gut.
Nach dem
Seminar findet an der Universität die erste Hermann Bonitz Lecture statt – zu
Ehren des deutschen Philologen Hermann Bonitz (1814-1888), der von 1849 bis
1867 in Wien als Professor und Bildungsreformer tätig war und dessen Metaphysik-Übersetzung
bis heute in Gebrauch ist. Insofern kann auch er zur Wiener
Aristoteles-Tradition gezählt werden.
Der Vortrag
von Victor Caston (Michigan) zum Thema „Aristotle on Illusions, Hallucinations,
and Dreams: Was he a Direct Realist?“ geht auf die Frage ein, ob und wie
Aristoteles ein Erkenntnisoptimist war, speziell auf der Ebene des sinnlichen
Wahrnehmens. Und er berührt das eben erwähnte Thema des Erscheinens, etwa mit
der aristotelischen Aussage, dass immerzu etwas erscheint, das Erscheinende
aber nicht jederzeit geglaubt wird oder dass die Tätigkeit des Wahrgenommenen
und die der Wahrnehmung dieselbe ist, nicht aber ihr Sein ...
Walter Seitter
Sitzung vom 22. Juni 2016
[1]
Siehe dazu Walter Seitter: Physik
des Daseins. Bausteine zu einer Philosophie der Erscheinungen (Wien 1997)
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