τὸ μὲν οὖν αἰσθάνεσθαι ὅμοιον τῷ ... νοεῖν.

Das Wahrnehmen nun ist ähnlich dem ... vernünftigen Erfassen.

Aristoteles (De Anima III, 7: 431a)

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Donnerstag, 23. Juni 2016

In der Metaphysik lesen (1024b 17 – 26)

Wir gehen auf das Buch IV zurück und ich behaupte (in teilweiser Übereinstimmung mit Gianluigi Segalerba), dass da zwei verschiedene Sachen gemacht werden. In Abschnitt 1 und 2 wird die Betrachtungsweise begründet, die dann die Bezeichnung „Ontologie“ bekommen hat. In den Abschnitten 3 bis 8 wird das Axiom eingeführt und langwierig verteidigt, das zumeist als „Satz vom Widerspruch“ benannt wird. Dieses Axiom tritt als Postulat, als Imperativ, als Gebot bzw. Verbot auf, das einerseits als selbstverständlich gelten kann, andererseits mit großer Hartnäckigkeit verteidigt wird.
Die Begründung der Ontologie oder ihre Erfindung wird mit dem Grundsatz von der mannigfachen Aussagung des Seienden eingeleitet (nach Segalerba eine „Kriegserklärung an Parmenides“ – allerdings ohne jeden bellizistischen Ton) und mit der Nennung einiger Seinsmodalitäten fortgesetzt. In dieser relativ kurzen Passage versteigt sich Aristoteles allerdings auch schon zu einer scharfen Polemik; doch im Großen und Ganzen handelt es sich um einen Gründungsakt: es werden zehn oder zwölf Seinsmodalitäten genannt, von denen eine, die Substanz, mit einem Primat ausgestattet wird. Die übrigen stellen Modifikationen dar, tendenziell schwächere Modifikationen, aber sie bekommen ihren Platz in dieser „Gesellschaft“. Es handelt sich bei jeder Modalität um eine eigenartige „Version“, um eine „Wendung“, um ein bestimmtes „wie“ des Seins. Ich greife zwei Beispiel heraus: die Relation und das Mögliche.
Wie sieht es mit den „Existenzweisen“ bei Bruno Latour aus? Angeblich gibt es deren 15. Zwei davon: Politik, Literatur.
Sie liegen zweifellos auf anderen Ebenen als die aristotelischen Modalitäten. Es handelt sich um Institutionen, die ihren Platz in der Gesellschaft ohne Anführungszeichen haben, sie haben sogar bestimmte Adressen in der Stadt. Aber den Modalitätencharakter haben sie mit den aristotelischen Bestimmungen gemeinsam: sie verkörpern gewisse Umgangsformen, gewisse Formalismen.

Endlich gehen wir zur Lektüre von Abschnitt 29 über, zum Stichwort „falsch“. Falsch ist entweder ein Sachverhalt wie die kommensurable Diagonale oder aber dein Sitzen (in dem Moment, in dem du stehst) (1024b 17ff.). Also Sachverhalte, die so nicht bestehen, nicht existieren. Falsch sind auch bestehende Sachverhalte, die ihrer Natur nach nicht so erscheinen, wie sie sind, oder aber etwas anderes, was sie nicht sind, erscheinen lassen (hier nennt Aristoteles die „Schattenmalerei“ und die Träume). Also die Verweigerer von richtigem Erscheinen und die Falscherscheinungen (auch Anschein, Schein, bloßer Schein). 
Was könnte mit den Sachen gemeint sein, die sich weigern, richtig zu erscheinen? Etwa die Natur, die es liebt, sich zu verbergen (Heraklit)? Oder alle festkörperlichen Dinge, von denen man nur die äußere Hülle sieht, welche alles zudeckt (Seitter)? Das wäre dann arg viel.
„Schattenmalerei“ hieß in der Antike die Illusionsmalerei, die auf zweidimensionalen Flächen dreidimensionale Realität suggeriert. Der Ausdruck „Skiagraphie“ steht sprachlich der „Photographie“ gegenüber, die mit anderen Mitteln Gleiches bewirkt. Und die Träume? Sie sind so „täuschend echt“, dass man sie erst im Nachhinein vom echten Erleben unterscheiden kann.
Diese Unterscheidungen lassen natürlich auch an die Dinge denken, die „richtig“ erscheinen, das Erscheinen also sachgemäß leisten. Aristoteles setzt zweifellos voraus, dass es diese Dinge gibt und dass sie den Regelfall bilden: den Regelfall der Wahrnehmung. Er würde wohl sagen, dass alle Dinge in irgendeiner Weise erscheinen müssen und man daher „erscheinen“ in den Rang einer Kategorie heben könnte.[1] Oder gar in den höheren Rang einer Transzendentalie – wie wahr, schön, gut.
Nach dem Seminar findet an der Universität die erste Hermann Bonitz Lecture statt – zu Ehren des deutschen Philologen Hermann Bonitz (1814-1888), der von 1849 bis 1867 in Wien als Professor und Bildungsreformer tätig war und dessen Metaphysik-Übersetzung bis heute in Gebrauch ist. Insofern kann auch er zur Wiener Aristoteles-Tradition gezählt werden.
Der Vortrag von Victor Caston (Michigan) zum Thema „Aristotle on Illusions, Hallucinations, and Dreams: Was he a Direct Realist?“ geht auf die Frage ein, ob und wie Aristoteles ein Erkenntnisoptimist war, speziell auf der Ebene des sinnlichen Wahrnehmens. Und er berührt das eben erwähnte Thema des Erscheinens, etwa mit der aristotelischen Aussage, dass immerzu etwas erscheint, das Erscheinende aber nicht jederzeit geglaubt wird oder dass die Tätigkeit des Wahrgenommenen und die der Wahrnehmung dieselbe ist, nicht aber ihr Sein ...


Walter Seitter
 
Sitzung vom 22. Juni 2016


[1] Siehe dazu Walter Seitter: Physik des Daseins. Bausteine zu einer Philosophie der Erscheinungen (Wien 1997)

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