τὸ μὲν οὖν αἰσθάνεσθαι ὅμοιον τῷ ... νοεῖν.

Das Wahrnehmen nun ist ähnlich dem ... vernünftigen Erfassen.

Aristoteles (De Anima III, 7: 431a)

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Montag, 6. Juni 2016

In der Metaphysik lesen (2400 Jahre Aristoteles)

Zwei Tage vor meiner Abreise nach Thessaloniki sagte ich zu dem südafrikanischen Psychotherapeuten Jo Steenkamp (bei dem es auch eine bemerkenswerte philosophische Dimension gibt), dass ich zum 2400. Geburtstag von Aristoteles fahren werde. Das klang für ihn so, dass er mich fragte, ob denn der noch am Leben sei. Darauf ich: Ja natürlich, ich fahre doch nicht zu einem Geburtstag von einem Toten ...

Vom 23. bis zum 28. Mai nahm ich also an dem Aristoteles-Kongreß in Thessaloniki teil, auf dem ungefähr 250 Vorträge gehalten wurden, außerdem gab es Exkursionen sowie musikalische Feiern. Meine aktuellen Aufmerksamkeitspunkte waren die beiden zuletzt in der Hermesgruppe zur Sprache gekommenen Aspekte: das Wort „verstümmelt“ in der Metaphysik sowie die von Verletzungen gezeichnete Statue am Rand des Aristoteles-Platzes. Gleich am ersten Tag fragte ich die Präsidentin des Kongresses, Dimitra Sfendoni-Mentzou, ob sie den Bildhauer der Skulptur eingeladen habe bzw. was sie von dieser Statue halte. Ihre spontane Antwort war sehr demokratisch: die ganze Stadt möge diese gar nicht und daher auch sie nicht. Die Chance, auf diesem Kongress den Bildhauer hören und sprechen zu können, war also von vornherein vergeben. Ich habe im Lauf der Woche mehrere Kongreßteilnehmer zur Statue geführt und vorsichtig-pädagogisch zum Sehen ihrer Besonderheit drängen können.
Mein eigener Vortrag mit dem Titel „Accidentalism in Aristotle: Poetics and Ontology“ war dem Hauptresultat der Poetik-Lektüre in der Hermesgruppe gewidmet und er fand genau gleichzeitig mit dem Vortrag statt, der dann am Freitag, dem 26. Mai, als Meldung über den Globus lief: Aristoteles-Grab in Stagira gefunden! Ein griechischer Archäologe hat zu einer bereits bekannten Ruine in dem Geburtsort des Philosophen die Hypothese formuliert, dass nach dem Tod des Aristoteles seine Asche hier beigesetzt worden sei. Daß diese Nachricht sogar in die österreichischen Zeitungen eingedrungen ist, während die Vorträge von Oliver Primavesi, Christof Rapp, Walter Seitter kein Presseecho fanden, muß meines Erachtens weder verwundern noch empören.
Ich nenne einige Vortragstitel wie den von Seweryn Blandzi: „Aristoteles’ Erste Philosophie: Metaphysik, Ontologie, Theologie oder Methodologie?“ Damit wird die Frage aufgeworfen, unter welche Titulierung(en) das von uns jetzt gelesene Buch gestellt werden kann. Gesche Heumann bemerkt, dass Aristoteles selber zunächst zwei andere Bezeichnungen einführt: eine operative: gesuchte Wissenschaft, eine eher Ehrfurcht gebietende: Weisheit. Shawn Welnak: „The Outlandish, Wonderful, Perplexing Philosophy of Aristotle“. Wir stellen fest, dass diese Charakterisierungen dem üblichen Bild, das man sich von Aristoteles, dem Lehrer und Systematiker, macht, eher widersprechen, nichtsdestotrotz könnten sie zutreffend sein. Zwei Vorträge waren Franz Brentano gewidmet, der in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts einer der ersten Wiederentdecker der aristotelischen Philosophie war und außerdem ein Wegbereiter des Wiener Kreises.
In Mieza, wo Aristoteles den jungen Alexander unterrichtet hat, sprach Lambros Couloubaritsis über „Die komplexe Organisation des aristotelischen Denkens“ – indem er auf die Verbindung zwischen den theoretischen und den praktischen Wissenschaften hinwies.
Am Freitag, dem 26. Mai, fuhren wir nach Stageira, wo seinerzeit auf steilen Hügeln zwischen zwei Meeresbuchten die Stadt lag, die zu Aristoteles’ Lebzeiten von König Philipp II. zerstört wurde, dann wieder aufgebaut worden ist, und nun seit Jahrtausenden einige schöne Mauern und Ruinen in den Wäldern darbietet. Anstrengendes Herumklettern unter heißer Sonne. Am selben Tag die Nachrichten vom leeren Grab weltweit.
Zu den kulturellen Veranstaltungen zählte ein Konzert in der Rotonda – mit der Aufführung einer „Hymne an Aristoteles“, deren erste Zeilen von Aristoteles selber gedichtet worden waren, und zwar als „Hymne an die Tugend“. Text und Noten wurden mir vom Dirigenten ausgehändigt, das heißt, ich könnte, wenn ich könnte, dieses Stück in Wien zur Aufführung bringen.
Den Schlußvortrag hielt Dimitra Sfendoni-Mentzou über „Aristotle’s Dynamic Vision of Nature: The case of ‚Prime Matter’. A Neo-Aristoteleian Perspective on Contemporary Physics“. Dieses anspruchsvolle Thema bewältigte sie allerdings nur um den Preis massiver Fehleinschätzungen.
Nach dem Abschluß des Kongresses hatte ich Gelegenheit, mit meinem Übersetzer Omiros Tachmazidis über einige dieser Themen zu sprechen. Das Gespräch wurde von dem Filmemacher Giorgos Keramidiotis aufgenommen und daraus wird er wohl seinen nächsten „Philosophen-Film“ machen. Am Abend traf ich mich mit dem Psychoanalytiker Christos Sidiropoulos, führte auch ihn zur Statue, wo er zum ersten Mal die erwähnten „Löcher“ sah. Ich erwähnte die Rolle des Wortes „verstümmelt“ bei Aristoteles sowie Jacques Lacans paradoxe Würdigung der Metaphysik in seinem Seminar XIX „... ou pire (1971-1972)“, die wir im November 2011 besprochen haben.
Sophia Panteliadou äußert die Meinung, dass sich in der Gegenwart das Interesse an Aristoteles auffallend verstärke, so dass sich die Frage stelle, ob es sich dabei um eine „Mode“ handle. Tatsache ist, dass die Hermesgruppe, als sie sich vor neun Jahren zur Lektüre der Poetik, vor fünf Jahren zur Lektüre der Metaphysik entschloß, einen ziemlich unzeitgemäßen Eindruck gemacht hat.

Gianluigi Segalerba berichtet von einer Tagung, die vor kurzem in Berlin stattfand und die der platonischen Seelenlehre im Phaidon gewidmet war; er selber sprach über Platons Argumente für die Existenz der Seele (incl. Präexistenz und Postexistenz) im Phaidros.[1] Und er weist darauf hin, dass der entscheidende Unterschied zwischen Platon und Aristoteles eher in der Seelenlehre und in der Auffassung vom menschlichen Schicksal liege. Platon sei es um die Abwehr katastrophaler Tendenzen anthropologischer, ethischer, politischer Art gegangen. Wenn er dazu neigte, einen apokalyptischen Ton anzuschlagen, während Aristoteles eine distanzierte Gelassenheit an den Tag lege, so sollten wir in unserer Aristoteles-Lektüre die platonische Lektion nicht ganz vergessen.

Walter Seitter
 
Sitzung vom 1. Juni 2016




[1] Titel seines Vortrags:  Der Beweis der Unsterblichkeit der Seele und die Schilderung der menschlichen Lage in Platons „Phaidros“ (245c–256d)

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