Zwei Tage vor
meiner Abreise nach Thessaloniki sagte ich zu dem südafrikanischen
Psychotherapeuten Jo Steenkamp (bei dem es auch eine bemerkenswerte
philosophische Dimension gibt), dass ich zum 2400. Geburtstag von Aristoteles
fahren werde. Das klang für ihn so, dass er mich fragte, ob denn der noch am
Leben sei. Darauf ich: Ja natürlich, ich fahre doch nicht zu einem Geburtstag
von einem Toten ...
Vom 23. bis
zum 28. Mai nahm ich also an dem Aristoteles-Kongreß in Thessaloniki teil, auf
dem ungefähr 250 Vorträge gehalten wurden, außerdem gab es Exkursionen sowie
musikalische Feiern. Meine aktuellen Aufmerksamkeitspunkte waren die beiden
zuletzt in der Hermesgruppe zur Sprache gekommenen Aspekte: das Wort
„verstümmelt“ in der Metaphysik sowie die von Verletzungen gezeichnete
Statue am Rand des Aristoteles-Platzes. Gleich am ersten Tag fragte ich die
Präsidentin des Kongresses, Dimitra Sfendoni-Mentzou, ob sie den Bildhauer der
Skulptur eingeladen habe bzw. was sie von dieser Statue halte. Ihre spontane Antwort
war sehr demokratisch: die ganze Stadt möge diese gar nicht und daher auch sie
nicht. Die Chance, auf diesem Kongress den Bildhauer hören und sprechen zu
können, war also von vornherein vergeben. Ich habe im Lauf der Woche mehrere
Kongreßteilnehmer zur Statue geführt und vorsichtig-pädagogisch zum Sehen
ihrer Besonderheit drängen können.
Mein eigener
Vortrag mit dem Titel „Accidentalism in Aristotle: Poetics and Ontology“
war dem Hauptresultat der Poetik-Lektüre in der Hermesgruppe gewidmet und er
fand genau gleichzeitig mit dem Vortrag statt, der dann am Freitag, dem 26.
Mai, als Meldung über den Globus lief: Aristoteles-Grab in Stagira gefunden!
Ein griechischer Archäologe hat zu einer bereits bekannten Ruine in dem
Geburtsort des Philosophen die Hypothese formuliert, dass nach dem Tod des
Aristoteles seine Asche hier beigesetzt worden sei. Daß diese Nachricht sogar
in die österreichischen Zeitungen eingedrungen ist, während die Vorträge von
Oliver Primavesi, Christof Rapp, Walter Seitter kein Presseecho fanden, muß
meines Erachtens weder verwundern noch empören.
Ich nenne
einige Vortragstitel wie den von Seweryn Blandzi: „Aristoteles’ Erste
Philosophie: Metaphysik, Ontologie, Theologie oder Methodologie?“ Damit wird
die Frage aufgeworfen, unter welche Titulierung(en) das von uns jetzt gelesene
Buch gestellt werden kann. Gesche Heumann bemerkt, dass Aristoteles selber
zunächst zwei andere Bezeichnungen einführt: eine operative: gesuchte
Wissenschaft, eine eher Ehrfurcht gebietende: Weisheit. Shawn Welnak: „The
Outlandish, Wonderful, Perplexing Philosophy of Aristotle“. Wir stellen fest,
dass diese Charakterisierungen dem üblichen Bild, das man sich von Aristoteles,
dem Lehrer und Systematiker, macht, eher widersprechen, nichtsdestotrotz
könnten sie zutreffend sein. Zwei Vorträge waren Franz Brentano gewidmet, der
in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts einer der ersten Wiederentdecker der
aristotelischen Philosophie war und außerdem ein Wegbereiter des Wiener
Kreises.
In Mieza, wo
Aristoteles den jungen Alexander unterrichtet hat, sprach Lambros
Couloubaritsis über „Die komplexe Organisation des aristotelischen Denkens“ –
indem er auf die Verbindung zwischen den theoretischen und den praktischen
Wissenschaften hinwies.
Am Freitag,
dem 26. Mai, fuhren wir nach Stageira, wo seinerzeit auf steilen Hügeln
zwischen zwei Meeresbuchten die Stadt lag, die zu Aristoteles’ Lebzeiten von
König Philipp II. zerstört wurde, dann wieder aufgebaut worden ist, und nun
seit Jahrtausenden einige schöne Mauern und Ruinen in den Wäldern darbietet.
Anstrengendes Herumklettern unter heißer Sonne. Am selben Tag die Nachrichten
vom leeren Grab weltweit.
Zu den
kulturellen Veranstaltungen zählte ein Konzert in der Rotonda – mit der
Aufführung einer „Hymne an Aristoteles“, deren erste Zeilen von Aristoteles
selber gedichtet worden waren, und zwar als „Hymne an die Tugend“. Text und
Noten wurden mir vom Dirigenten ausgehändigt, das heißt, ich könnte, wenn ich
könnte, dieses Stück in Wien zur Aufführung bringen.
Den
Schlußvortrag hielt Dimitra Sfendoni-Mentzou über „Aristotle’s Dynamic Vision
of Nature: The case of ‚Prime Matter’. A Neo-Aristoteleian Perspective on
Contemporary Physics“. Dieses anspruchsvolle Thema bewältigte sie allerdings
nur um den Preis massiver Fehleinschätzungen.
Nach dem
Abschluß des Kongresses hatte ich Gelegenheit, mit meinem Übersetzer Omiros
Tachmazidis über einige dieser Themen zu sprechen. Das Gespräch wurde von dem
Filmemacher Giorgos Keramidiotis aufgenommen und daraus wird er wohl seinen
nächsten „Philosophen-Film“ machen. Am Abend traf ich mich mit dem
Psychoanalytiker Christos Sidiropoulos, führte auch ihn zur Statue, wo er zum
ersten Mal die erwähnten „Löcher“ sah. Ich erwähnte die Rolle des Wortes
„verstümmelt“ bei Aristoteles sowie Jacques Lacans paradoxe Würdigung der Metaphysik
in seinem Seminar XIX „... ou pire (1971-1972)“, die wir im November
2011 besprochen haben.
Sophia
Panteliadou äußert die Meinung, dass sich in der Gegenwart das Interesse an
Aristoteles auffallend verstärke, so dass sich die Frage stelle, ob es sich
dabei um eine „Mode“ handle. Tatsache ist, dass die Hermesgruppe, als sie sich
vor neun Jahren zur Lektüre der Poetik, vor fünf Jahren zur Lektüre der Metaphysik
entschloß, einen ziemlich unzeitgemäßen Eindruck gemacht hat.
Gianluigi
Segalerba berichtet von einer Tagung, die vor kurzem in Berlin stattfand und
die der platonischen Seelenlehre im Phaidon gewidmet war; er selber
sprach über Platons Argumente für die Existenz der Seele (incl. Präexistenz und
Postexistenz) im Phaidros.[1]
Und er weist darauf hin, dass der entscheidende Unterschied zwischen Platon und
Aristoteles eher in der Seelenlehre und in der Auffassung vom menschlichen
Schicksal liege. Platon sei es um die Abwehr katastrophaler Tendenzen
anthropologischer, ethischer, politischer Art gegangen. Wenn er dazu neigte,
einen apokalyptischen Ton anzuschlagen, während Aristoteles eine distanzierte
Gelassenheit an den Tag lege, so sollten wir in unserer Aristoteles-Lektüre die
platonische Lektion nicht ganz vergessen.
Walter Seitter
Sitzung vom 1. Juni 2016
[1]
Titel seines Vortrags: Der
Beweis der Unsterblichkeit der Seele und die Schilderung der menschlichen Lage
in Platons „Phaidros“ (245c–256d)
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