τὸ μὲν οὖν αἰσθάνεσθαι ὅμοιον τῷ ... νοεῖν.

Das Wahrnehmen nun ist ähnlich dem ... vernünftigen Erfassen.

Aristoteles (De Anima III, 7: 431a)

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Freitag, 17. Juni 2016

In der Metaphysik lesen (Ontologien)

Die Buchpräsentation zum Glaubensbegriff bei Aristoteles hat – jedenfalls vorläufig – gezeigt, dass dieser Begriff bei Aristoteles so gut wie nichts mit Religion zu tun hat. Es handelt sich um einen erkenntnistheoretischen Begriff, der die Verbindung zwischen dem Wissen und der jeweiligen Person bezeichnet – also die Gewissheit. Es scheint, dass zwischen Wissen und Glauben notwendige Beziehungen bestehen, dass Meinen und Überzeugung, überzeugen als Tätigkeit, überzeugt werden als Vorgang vom Wissen nicht abzulösen sind. Es geht also um Erkenntnispsychologie, vielleicht um Erkenntnispolitik.
Bruno Latours Buchtitel Existenzweisen könnte in Analogie zu den „Seinsmodalitäten“ verstanden werden, die wiederum eine Umformulierung der „Kategorien“ darstellen, die ihrerseits ausgehend vom Sprachgebrauch allgemeinste Realitätsgattungen bezeichnen.
In der aristotelischen Ontologie stellt die Substanz nur eine Modalität dar, welcher neun oder noch mehr andere Modalitäten untergeordnet sind beziehungsweise gegenüberstehen. Für den Sonderfall einer literarischen Handlung hat Aristoteles die Dominanz der Substanzen (der handelnden Personen) suspendiert. Man könnte die Frage stellen, ob nicht alle künstlichen Substanzen aus Bestandteilen zusammengesetzt sind, die von – natürlichen – Substanzen herrühren, die jedoch ihre Selbständigkeit verloren haben. Beispiel: Tisch - aus Holz und Glas - aus Bäumen und Steinen.  
Das bereits erwähnte „Geben“ ist von Aristoteles nicht in den Rang einer Kategorie gehoben worden. Woran liegt das? Ist dieser Vorgang in der Kultur seiner Zeit nicht so wichtig gewesen? Eigentlich möchte man das kaum annehmen. Jedenfalls hatte die griechische Sprache nicht das Synonym „es gibt“ für „existiert“. Das Schweizer Deutsch hat das auch nicht – dort sagt man „es hat“. Und die Franzosen sagen „da hat es“.
Wenn uns eine bestimmte historisch vorliegende Ontologie mangelhaft erscheint, können wir das nicht nur sagen, man kann sie durch eine andere Ontologie ersetzen. Analytische Philosophen würden dann von einer „revisionären Ontologie“ sprechen. Die radikalste Revision würde wohl darin bestehen, die dominante Substanz durch das Ereignis zu ersetzen. Alfred North Whitehead (1861-1941) hat so etwas getan.[1] Andere neuere Ontologien finden sich bei Williard Van Orman Quine, Keith Campbell, Joshua Hoffman & Gary S. Rosenkrantz.[2]
Ich würde daraus den Schluß ziehen, dass man vor Ontologie keine Angst haben muß.
Was nicht heißt, dass man als Philosoph unbedingt eine machen muß. Das muß man gar nicht. Allerdings dürfte es unvermeidlich sein, eine implizit vorauszusetzen. Explizit eine formulieren – ist Sache der Entscheidung.
Die Bezeichnung „Ontologie“ stammt aus dem frühen 17. Jahrhundert und ist wohl hauptsächlich durch die aristotelische Tradition motiviert. Man kann sie auch auf Platon anwenden. Gianluigi Segalerba weist erneut darauf hin, dass die platonische Ontologie, die häufig als „Ideenlehre“ bezeichnet wird oder als „Zwei-Welten-Lehre“, in engem Zusammenhang mit der Anthropologie gesehen werden muß, in der es um das Drama der menschlichen Entscheidung, um das Schicksal des Menschen geht. Die Ontologie sei hier einer Art „Existenzphilosophie“ untergeordnet. „Existenz“ im Sinne der Existenzphilosophie, nicht als ökonomische Subsistenz, auch nicht als bloße Faktizität. Dabei stellt sich allerdings die Frage, wie denn diese menschliche Existenz ihrerseits ontologisch oder kosmologisch oder ideenhaft definiert ist.
Demgegenüber habe die Ontologie bei Aristoteles eine selbständige Bedeutung. Sie sei eine theoretische Wissenschaft und verschaffe dem sie ausübenden Menschen ein Höchstmaß an Erfüllung. Letzten Endes geht es auch bei Aristoteles um das Schicksal des Menschen, das zwischen Unglück und Glück oszilliert. Auch hier stellt sich die Frage, wie der Mensch in der Ontologie bestimmt werde: gewiß als Körper mit Seele; eventuell mit einer Seele, die mit einer Art höheren Seele aufgestockt wird: dem Geist, der den Menschen mit Göttlichem ausstattet, und andererseits das aristotelische Postulat einer totalen Koextension, gewissermaßen Koinzidenz, zwischen Körper und Seele stört - ?
Der „existenzphilosophischen“ Dramatik bei Platon steht bei Aristoteles keine ähnliche Dramatik gegenüber. Seine sachliche Gelassenheit (Signifikat) wird allerdings von einem Text (Signifikant) geliefert, dem es an stiller ja heimlicher Dramatik nicht fehlt.

Walter Seitter
 
Sitzung vom 15. Juni 2016


[1] Siehe dazu Pierfrancesco Basile: Monadologie und Relationen – Whitehead, Russel und die Ablehnung der Substanz-Metaphysik, in: H. Gutschmidt, A. Lang-Balestra, G. Segalerba (Hg.): Substantia – Sic et Non. Eine Geschichte des Substanzbegriffs von der Antike bis zur Gegenwart in Einzelbeiträgen (Frankfurt 2008): 445-459.
[2] Siehe dazu Christian Kanzian & Joseph Wang: Substanzen in der analytischen Ontologie, in H. Gutschmict, A. Lang-Balestra, G. Segalerba (Hg.): op. cit.: 520-542.

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