Beinahe ebenso
befremdlich wie die Rede von „falschen“ Sachen erscheint die Rede von
„falschen“ Begriffen. Aristoteles muß denn auch eine Verrenkung anstellen, um
diesen Sprachgebrauch zu rechtfertigen: „Daher ist jeder Begriff falsch für
etwas anderes als wofür er wahr ist.“ (1024 b 28) – wie etwa der Begriff des
Kreises für das Dreieck falsch ist.
Für jedes
Einzelding gibt es eigentlich nur einen wahren Begriff: den Wesensbegriff; aber
dann doch noch viele andere Begriffe – nämlich die dem Ding zukommenden
Affektionen oder Akzidenzien. Für Sokrates also: „Mensch“ und „gebildet“; diese
möglichen zusätzlichen Begriffe sind zahlenmäßig nicht begrenzt.
In diesem
Zusammenhang wendet sich Aristoteles gegen den Philosophen Antisthenes, einen
Sokrates-Schüler, der von 445 bis 365 gelebt hat und ein Begründer der
Kynischen Schule gewesen ist. Er soll gemeint haben, auf jedes Einzelne könne
nur ein einziger Begriff angewendet werden, nämlich der für es eigentümliche.
Damit werden Begriffe im präzisen des Wortes, nämlich Allgemeinbegriffe,
ausgeschlossen und eigentlich nur Namen, nämlich Eigennamen, zugelassen. Die
weittragende Konsequenz einer solchen „Begriffspolitik“: so wird Widerrede
unmöglich und beinahe auch die Falschrede.
Innerhalb
eines solchen Systems könnten wir von Gesche nur sagen: „Gesche ist Gesche“.
Nicht aber „Gesche ist Malerin“ – was ihr Gelegenheit gäbe zu, sagen „Nein, ich
bin Maler“.
Anscheinend
bedarf es eines so berühmten Buches wie der Metaphysik und eines so berühmten
wie auch verfemten Autors wie Aristoteles, dass eine banale linguistisch-logische
Unterscheidung wie die zwischen Begriff und Name in Erinnerung gerufen, nein
überhaupt bekannt gemacht wird. Ist das etwa eine „metaphysische“
Unterscheidung? Auf jeden Fall eine sehr wichtige und ohne die – jedenfalls
praktische - Kenntnis dieser Unterscheidung kann man eigentlich in keiner
Sprache mitreden, weder auf Deutsch noch sonst wie.
Mit seiner
Kritik an Antisthenes plädiert Aristoteles für die Möglichkeit der Widerrede
und sogar für die Möglichkeit der Falschrede?
Ist er nun
etwa auf die Seite der Protestler übergelaufen, die irgendetwas sagen dürfen
möchten, weil man wird doch noch dies oder das sagen dürfen?
Oder gab es da
nicht im Buch IV den sogenannten „Satz vom Widerspruch“, eigentlich „Satz vom
ausgeschlossenen Widerspruch“? Was sollte da ausgeschlossen werden?
Und jetzt hält
ausgerechnet der seriöse Philosoph Aristoteles dem Protestphilosophen
Antisthenes vor, er mache mit seiner „Logik“ Widerrede und fast auch Falschrede
unmöglich.
Wieso tritt
Aristoteles für die Möglichkeit der Widerrede und sogar der Falschrede
ein?
Weil nur unter
diesen Bedingungen die Möglichkeit, wohlgemerkt nur die Möglichkeit, zu
Wahrrede (véridiction) aufrechterhalten bleibt. Irgendwo sagt das auch Lacan
(denn der sagt ziemlich oft irgendetwas Wahres). Aber dank dem netten
Antisthenes sagt es – allerdings sehr komprimiert – bereits Aristoteles.
Bekanntlich
hat jedes Ding, jedes Wesen, jeder Sachverhalt und jedes Ereignis die Pflicht,
zu etwas gut zu sein.
Wenn das Metaphysik-Lesen
dazu gut ist, irgendjemanden auf die Unterscheidung zwischen Namen und Begriff
– mitsamt den Konsequenzen – aufmerksam zu machen, dann ist es schon zu etwas
gut.
Und was den
„Satz vom Widerspruch“ anlangt, so wird über den auch noch Klarheit hergestellt
werden.
In diesem
Sinne wünsche ich uns allen einen schönen Sommer.
Nächste
Sitzung am 12. Oktober 2016
Walter Seitter
Sitzung vom 29. Juni 2016
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen