τὸ μὲν οὖν αἰσθάνεσθαι ὅμοιον τῷ ... νοεῖν.

Das Wahrnehmen nun ist ähnlich dem ... vernünftigen Erfassen.

Aristoteles (De Anima III, 7: 431a)

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Mittwoch, 29. Juni 2016

In der Metaphysik lesen (1024b 27 – 38)

Beinahe ebenso befremdlich wie die Rede von „falschen“ Sachen erscheint die Rede von „falschen“ Begriffen. Aristoteles muß denn auch eine Verrenkung anstellen, um diesen Sprachgebrauch zu rechtfertigen: „Daher ist jeder Begriff falsch für etwas anderes als wofür er wahr ist.“ (1024 b 28) – wie etwa der Begriff des Kreises für das Dreieck falsch ist.
Für jedes Einzelding gibt es eigentlich nur einen wahren Begriff: den Wesensbegriff; aber dann doch noch viele andere Begriffe – nämlich die dem Ding zukommenden Affektionen oder Akzidenzien. Für Sokrates also: „Mensch“ und „gebildet“; diese möglichen zusätzlichen Begriffe sind zahlenmäßig nicht begrenzt.
In diesem Zusammenhang wendet sich Aristoteles gegen den Philosophen Antisthenes, einen Sokrates-Schüler, der von 445 bis 365 gelebt hat und ein Begründer der Kynischen Schule gewesen ist. Er soll gemeint haben, auf jedes Einzelne könne nur ein einziger Begriff angewendet werden, nämlich der für es eigentümliche. Damit werden Begriffe im präzisen des Wortes, nämlich Allgemeinbegriffe, ausgeschlossen und eigentlich nur Namen, nämlich Eigennamen, zugelassen. Die weittragende Konsequenz einer solchen „Begriffspolitik“: so wird Widerrede unmöglich und beinahe auch die Falschrede.
Innerhalb eines solchen Systems könnten wir von Gesche nur sagen: „Gesche ist Gesche“. Nicht aber „Gesche ist Malerin“ – was ihr Gelegenheit gäbe zu, sagen „Nein, ich bin Maler“.
Anscheinend bedarf es eines so berühmten Buches wie der Metaphysik und eines so berühmten wie auch verfemten Autors wie Aristoteles, dass eine banale linguistisch-logische Unterscheidung wie die zwischen Begriff und Name in Erinnerung gerufen, nein überhaupt bekannt gemacht wird. Ist das etwa eine „metaphysische“ Unterscheidung? Auf jeden Fall eine sehr wichtige und ohne die – jedenfalls praktische - Kenntnis dieser Unterscheidung kann man eigentlich in keiner Sprache mitreden, weder auf Deutsch noch sonst wie.
Mit seiner Kritik an Antisthenes plädiert Aristoteles für die Möglichkeit der Widerrede und sogar für die Möglichkeit der Falschrede?
Ist er nun etwa auf die Seite der Protestler übergelaufen, die irgendetwas sagen dürfen möchten, weil man wird doch noch dies oder das sagen dürfen?
Oder gab es da nicht im Buch IV den sogenannten „Satz vom Widerspruch“, eigentlich „Satz vom ausgeschlossenen Widerspruch“? Was sollte da ausgeschlossen werden?
Und jetzt hält ausgerechnet der seriöse Philosoph Aristoteles dem Protestphilosophen Antisthenes vor, er mache mit seiner „Logik“ Widerrede und fast auch Falschrede unmöglich.
Wieso tritt Aristoteles für die Möglichkeit der Widerrede und sogar der Falschrede ein? 
Weil nur unter diesen Bedingungen die Möglichkeit, wohlgemerkt nur die Möglichkeit, zu Wahrrede (véridiction) aufrechterhalten bleibt. Irgendwo sagt das auch Lacan (denn der sagt ziemlich oft irgendetwas Wahres). Aber dank dem netten Antisthenes sagt es – allerdings sehr komprimiert – bereits Aristoteles.
Bekanntlich hat jedes Ding, jedes Wesen, jeder Sachverhalt und jedes Ereignis die Pflicht, zu etwas gut zu sein.
Wenn das Metaphysik-Lesen dazu gut ist, irgendjemanden auf die Unterscheidung zwischen Namen und Begriff – mitsamt den Konsequenzen – aufmerksam zu machen, dann ist es schon zu etwas gut.
Und was den „Satz vom Widerspruch“ anlangt, so wird über den auch noch Klarheit hergestellt werden.

In diesem Sinne wünsche ich uns allen einen schönen Sommer.

Nächste Sitzung am 12. Oktober 2016


Walter Seitter
 
Sitzung vom 29. Juni 2016


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