Am letzten
Donnerstag, dem 2. Juni, war eine Ausstellung zu sehen, die dem Thema
„Muttermilch“ gewidmet ist. Also genau dem Thema, das wir vor einigen Monaten
mit der aristotelischen Terminologie besprochen haben – nicht ohne deutlichen
Widerstand einiger Seminarteilnehmerinnen. Wir sprachen vom „Mutteressen des
Säuglings“, wir betrachteten die Sache aus der Perspektive des Säuglings, des
Nehmenden und sein Überleben Besorgenden. All das muß einen irgendwie grausamen
Eindruck gemacht haben. In der Ausstellung hat die Künstlerin, Irini
Athanassakis, die Sache unter den Hauptbegriff des Gebens gestellt und damit
befand man sich in einer ethischen Wohlfühlatmosphäre. Es ging aber um genau
denselben Sachverhalt. Man kann jedweden Sachverhalt mit unterschiedlichen
Zugängen, Betrachtungsweisen, Redensarten „behandeln“ und damit
unterschiedliche Wirkungen erzielen. (Dieser sozusagen „Meta-Sachverhalt“ liegt
dem zugrunde, was ich einmal „Tychanalyse“ genannt habe).
Es wurde die
Feststellung gemacht, dass das Wort „geben“ bei Aristoteles nicht in den Rang
einer Kategorie gehoben worden ist – und sogar, dass dieses Wort bei
Aristoteles überhaupt sehr selten, beinahe nie (?) vorzukommen scheint. Kann
man das Geben irgendwo in seiner Kategorientafel implizit ausfindig machen? Am
ehesten wohl als eine Sorte in der Kategorie „Wirken“ und die Kategorie „Haben“
hängt indirekt damit zusammen. Das Wort für „Nicht-Haben“ steht außerhalb der
Kategorien, kommt aber im Wörterbuch von Buch V vor. Der Begriff „Bewegung“
spielt bei Aristoteles eine allergrößte Rolle, bildet aber keine Kategorie.
Daraus ergibt sich, dass die Kategorientafel nicht in Erz gegossen ist, man
könnte sie auch umbilden. Ontologie wird zwar mit Wissenschaftsanspruch
aufgestellt – aber nicht ohne Kontingenz.
Mein Thessalonicher
Vortrag „Accidentalism in Aristotle. Poetics and Ontology“, der aus der
Poetik-Lektüre der Hermesgruppe hervorgegangen ist, geht von der Feststellung
aus, dass Aristoteles für den plot der Tragödie die Agens-Kausalität weitgehend
durch die Ereignis-Kausalität ersetzt. Die „Handlung“ im literarischen Sinn
soll durch die Verknüpfung der Handlungsmomente erreicht werden, die man
wiederum mit den Akzidenzien gleichsetzen kann. Für diesen speziellen Bereich
wird also der Primat der Substanzen suspendiert, was nicht heißt, dass dieser
Primat generell außer Kraft gesetzt wird. Die Ausnahmesituation ist ja durch
den Dichter herbeigeführt worden, der zweifellos eine Substanz ist. Und was
Aristoteles zusätzlich behauptet, ist, dass die Tragödie selber eine neue
Substanz eigener Art ist: eine artifizielle - mit dem plot als Seele und
mit gewissen materiellen Komponenten als Körper. Das heißt: man kann mit dem
Begriff „Substanz“ auch jonglieren und wenn man sich an gewisse Kriterien hält,
bleibt man im Rahmen der aristotelischen Ontologie.
Die
aristotelische Ontologie wird auf den Begriff der Substanz (Essenz,
Wesen(heit)) nicht verzichten können, sie impliziert aber keinen
„Substanzialismus“, der in der Welt möglichst viele Substanzen etablieren will,
etwa die Wahrheit oder den Staat oder die Sprache zu Substanzen ernennen will.
Das Axiom der Ontologie heißt: das Seiende wird mannigfaltig ausgesagt und
mannigfaltig heißt: eine Kategorie heißt „Substanz“, neun sind die Akzidenzien
und zu denen kommen noch einige weitere nicht-substanzielle Seinsmodalitäten
(Potenz, Bewegung, Zeugung, Zerstörung .... (diese sind nicht abzählbar!)). Die
Mehrheitsverhältnisse in der Ontologie sind nicht günstig für die Substanz und
wenn sie sich wichtig macht, noch wichtiger als sie ohnehin ist, oder wenn sie
übermäßig wichtig gemacht wird von Aristoteles-Spezialisten wie Christof Rapp,
so ändert das nichts an ihrer prekären Lage.
Der Abschnitt
8 im Buch V, den wir äußerst oft gelesen, erwähnt, erinnert und wieder erinnert
haben und den wir vielleicht noch öfter erinnern werden, wenn es denn sein muß
(allerdings habe ich noch bei keinem Kommentator von der außerordentlichen
Aussagekraft dieses Abschnitts gelesen), dieser Abschnitt antwortet auf die
Frage, wo eigentlich, was eigentlich, wer eigentlich die Substanzen sind, so:
es sind die Körper mit Seelen - folglich auch ich, du, er, sie, es und so
weiter. Alle ganz anderen Entitäten wie Eigenschaften, Beziehungen,
Möglichkeiten, Wörter, Wahrheiten, Existenzen, Negationen sind keine
Substanzen. Das heißt nicht, dass sie einfach Differenzen sind, sie lassen sich
vielmehr genauer charakterisieren – wie eben angedeutet.
Im übrigen:
wenn man gar kein Dichter ist, wenn man keinem Ding eine Seele andichten mag,
dann wird es gar wenig Substanzen geben. Die Ontologie ist eine Wissenschaft –
nicht ohne Kontingenz, nicht ohne Übermut. Wissenschaft gibt es überhaupt nur
mit Übertreibung. Bruno Latour: Jubilieren (Frankfurt 2011)
Walter Seitter
Sitzung vom 9. Juni 2016
PS.:
Vortrag von Christos Sidiropoulos
„Dreieinigkeit und Einheit: vom Dasein zum das-Ein“
VINOE – Die Niederösterreich Vinothek, Piaristengasse 35, 1080
Montag, 13. Juni 2016, 19:30 Uhr
PPS.:
Buchpräsentation
HANS SCHELKSHORN, HELMUTH VETTER: FRIEDRICH WOLFRAM „ANTHROPOLOGIE DER GEWISSHEIT. EIN VERSUCH ÜBER DEN GLAUBENSBEGRIFF BEI ARISTOTELES
Otto-Mauer-Zentrum / Währinger Str. 2-4 / 1090
Dienstag, 14. Juni 2016, 19 Uhr
Vortrag von Christos Sidiropoulos
„Dreieinigkeit und Einheit: vom Dasein zum das-Ein“
VINOE – Die Niederösterreich Vinothek, Piaristengasse 35, 1080
Montag, 13. Juni 2016, 19:30 Uhr
PPS.:
Buchpräsentation
HANS SCHELKSHORN, HELMUTH VETTER: FRIEDRICH WOLFRAM „ANTHROPOLOGIE DER GEWISSHEIT. EIN VERSUCH ÜBER DEN GLAUBENSBEGRIFF BEI ARISTOTELES
Otto-Mauer-Zentrum / Währinger Str. 2-4 / 1090
Dienstag, 14. Juni 2016, 19 Uhr
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