1// Nach Seitter: die Philosophie (was sichtbar werde in der Substantialisierung der Aussagen). Diese Position entspricht der Konvention, Naturbeobachtungen (Physiologien) und Mathematik der Griechen dem Gesamtkorpus des antiken Philosophierens zuzuschlagen und die Physiologien von Milet, Heraklit und Thales zum Ausgangspunkt des okzidentalen Weltentwurfs der Vernunft zu erklären.
2// Dem entgegen sagt Nietzsche: »Die Griechen übernehmen die Wissenschaft von den Orientalen. Die Mathematik und Astronomie ist (sic!) älter als die Philosophie« (NF 1872, 19.96). Diese These lässt sich noch erweitern auf Geographie, Physik, Kosmologie und Medizin, die als Erkundungsfelder alle schon vor der Philosophie bestanden haben. Auch die Substantialisierung von Aussagen findet sich bereits in der praktisch-technischen Wissenskultur der Alten, z.B. »das Unendliche« bei Pythagoras.
3// Die Vorsokratiker unterschieden sich allerdings in einem Punkt von ihren mesopotamischen und ägyptischen Kollegen. Sie suchten nicht nur »positive Kenntnisse«, sondern sie verstärkten die Suche nach Prinzipien zwischen den Resulaten. Mit anderen Worten: sie theoretisierten ihr Wissen stärker, sie leiteten Ideen aus den Resultaten ab, deren Diskussion sich in den Doxographien über Generationen hinweg verfolgen lässt. Die Wissenschaften der Griechen waren darüber hinaus diskursiver als die ihrer Vorgänger an den grossen Strömen (Pichot, 276); sie wurden sich über die Rolle der Sprache bewusst, und die Wahrheitssuche der Eleaten und Sophisten fügte dem Sammeln von Erkenntnissen die Erkenntniskritik hinzu, d.h. die Frage nach der Gültigkeit der Erkenntnisse (Pichot, 450).
4// Das alles war historisch neu, aber wurden die Vorsokratiker auf diese Weise zu den »ersten Philosophen«, wie Aristoteles meint (Metaphysik, I.3), der die Ausdrücke Wissenschaft und Philosophie weitgehend synonym verwendet? Dagegen spricht einiges. »Die Philosophie hat nichts Gemeinsames, sie ist bald Wissenschaft, bald Kunst«, lehrt Nietzsche; und Nietzsche beschreibt im Rückblick aus dem 19. Jahrhundert ein triadisches Wechselspiel dieser Sphären. In der Genese des griechischen Denkens geht es den Philosophen vor allem um Wissenschaftsbeherrschung: »Was soll der Philosoph? Inmitten der ameisenhaften Wimmelei das Problem des Daseins, überhaupt die ewigen Probleme zu betonen. Der Philosoph soll erkennen, was noth thut, und der Künstler soll es schaffen. Der Philosoph soll am stärksten das allgemeine Leid nachempfinden: wie die alten griechischen Philosophen jeder eine Noth ausdrückt: dort, in die Lücke hinein stellt er sein System. Er baut seine Welt in diese Lücke hinein« (NF-1872, 19.23).
5// In die Lücke der ewigen Probleme baute der Philosoph sein System. Die Wissenschaften verloren sich für ihn nur zu leicht in den praktischen Interessen. »Es handelt sich nicht um eine Vernichtung der Wissenschaft, sondern um eine Beherrschung. Sie hängt nämlich in allen ihren Zielen und Methoden durch und durch ab von philosophischen Ansichten, vergißt dies aber leicht. Die beherrschende Philosophie hat aber auch das Problem zu bedenken, bis zu welchem Grade die Wissenschaft wachsen darf: sie hat den Werth zu bestimmen!« (NF-1872, 19.24).
6// Die Wissenschaftsbeherrschung wurde das Hauptziel der philosophischen Produktion des 4. Jahrhunderts vuZ – vornehmlich durch Platon und Aristoteles. Diese Systemphilosophen bildeten erstmals Institutionen, die das Lehrgut eines Meisters bewahrten, sie schafften Bibliotheken, in denen das als »überholt« geltende Wissen mit der Zeit zwangsläufig wieder verloren gehen musste. Die vorsokratischen Erkenner und Erkunder haben keine solchen Schulinstitutionen betrieben; die Häuser des 4. Vorjahrhunderts aber vermittelten die Kenntnisse nun nicht nur hierarchisch, sie dramatisierten das gewonnene Wissen in einem sich ständig selbst verschlingenden Prozess.
7// Der Anfang der Systemphilosophie war der Anfang der Universitätsphilosophie. Sie bändigte den Wissenstrieb der Forscher, indem sie den Begriff des geistigen Fortschritts ins Spiel brachte, den sie wiederum von den Künsten entlehnte, einem noch älteren Spiel einander übertrumpfender Darstellungsweisen und Geschmacksmoden. Und die Systemphilosophie marginalisierte die denkerische Einzelleistung, indem sie den Erkenntnisgewinn zwingend an den Austausch unter Wissenden band. Auch dieses Diskursverfahren entlehnte sie wiederum der Kultur, speziell dem griechischen Theater, das sein Publikum bei einmaligen Aufführungen in öffentlichen Wettkämpfen in den Bann zog.
8// »Der Philosoph der tragischen Erkenntniß. Er bändigt den entfesselten Wissenstrieb, nicht durch eine neue Metaphysik. Er stellt keinen neuen Glauben auf. Er empfindet den weggezogenen Boden der Metaphysik tragisch und kann sich doch an dem bunten Wirbelspiele der Wissenschaften nie befriedigen. Er baut an einem neuen Leben: der Kunst giebt er ihre Rechte wieder zurück. Der Philosoph der desperaten Erkenntniß wird in blinder Wissenschaft aufgehen: Wissen um jeden Preis. Für den tragischen Philosophen vollendet es das Bild des Daseins, daß das Metaphysische nur anthropomorphisch erscheint. Er ist nicht Skeptiker. Hier ist ein Begriff zu schaffen: denn Skepsis ist nicht das Ziel. Der Erkenntnißtrieb, an seine Grenzen gelangt, wendet sich gegen sich selbst, um nun zur Kritik des Wissens zu schreiten. Die Erkenntniß im Dienste des besten Lebens. Man muß selbst die Illusion wollen – darin liegt das Tragische« (NF-1872, 19.35).
9// Die Philosophie war in der nietzscheanischen Perspektive den Wissenschaften keinesfalls vorausgegangen, sie bildete in ihren Denkschulen vielmehr eine Art saturnischen Katalysator der Forschungsbemühungen, dessen Institutionen nun ständig die eigenen Kinder frassen. Die Medientheorie führt hier leicht auf eine falsche Spur. Dass von den Denkern des 6. und 5. Vorjahrhunderts so wenig erhalten geblieben ist, hängt weniger mit der geringen Haltbarkeit der Bücher als mit ihrem Inhalt zusammen.
10// Die vorsokratischen Physiologen, Mathematiker und Heiler waren – trotz ihres gesteigerten Theoretisierens und trotz dem Aufkommen der Erkenntniskritik – keine »Philosophen« im Sinn der aristotelischen Selbstvorstellung von Philosophie. Als »Philosoph« anzusprechen wäre eigentlich erst jener Denker, der seinen ungenügenden Vorläufern den Titel der »ersten Philosophen« zuschreibt, um ihre Ergebnisse in der Lücke der ewigen Probleme zu unterwerfen und sie der Kritik der Zusammenschau zuzuführen. Nur in diesem engen Sinn ist Aristoteles als der »Vater der Wissenschaften« anzusehen. Einer saturnischen Wissenskultur des offenen Austausches der Resultate und der Beschleunigung des ergebnisoffenen Fortschritts. Auf diese Weise ging, wie überall, auch in Griechenland der wissenschaftliche Geist der systematisierenden Philosophie voraus. Und schneller als anderswo geriet das Naturverhältnis der Griechen in die Zirkulationssphäre des Werts.
Text von Wolfgang Koch
Überlegungen zu den Sitzungen vom März 2017
Literatur:
André Pichot, La naissance de la sciene, 1991
Friedrich Nietzsche, Nachgelassene Fragmente, 1869-88