Die Ontologie ist eine Richtung des
Philosophierens, die mit empirischen Sachuntersuchungen zunächst einmal wenig
zu tun hat. Jedenfalls gilt das für die theoretische Ontologie, welche die
allgemeinen und grundlegenden Seinsmodalitäten aufstellt und ordnet, wobei sie
sich vor allem an die Sprache anlehnt, die mit ihrer Unterscheidung von
Substantiven, Verben, Adjektiven usw. die Kategorien vorgibt und weitere
Seinsmodalitäten wie Möglichkeit, Notwendigkeit, Entstehung und Vergehung und
Negation vorzeichnet. Außer den Seinsmodalitäten, die jeweils alternativ
einzusetzen sind, gibt es die allgemeinsten Seinseigenschaften oder
„Transzendentalien“, die jedem Seienden als solchen zukommen; bei Aristoteles
heißen sie: ein, wißbar oder wahr, erkennbar oder gut; sie werden wie „seiend“
analog, also flexibel, je nach Eigenart der Sachen zugesprochen.
Damit ist bereits der Übergang von der
theoretischen zur okkasionellen Ontologie nahegelegt. Sachuntersuchungen, die
von der Erfahrung ausgehen und von anderen philosophischen (oder
wissenschaftlichen) Disziplinen durchgeführt werden, können unerwartet und
„plötzlich“ auf ontologische Fragestellungen stoßen – etwa, indem sie
feststellen, daß die Vorgaben der theoretischen Ontologie nicht mehr zuzutreffen
scheinen. So etwas haben wir in der Poetik erlebt, wo Aristoteles für
den plot der Tragödie die Ordnung von Substanz und Akzidenzien
umzustoßen scheint. Allerdings hat er das nicht eigens thematisiert, sondern
wir haben das getan und haben daher explizit „okkasionelle“ Ontologie gemacht.
Wir taten das auch mit der Fragestellung, ob denn die Tragödie, der Aristoteles
eine Wesenheit zuspricht, auch ein selbständiges Wesen ist, also eine Substanz
(ungefähr wie die Lebewesen). Auf jeden Fall schien uns die Tragödie eine
unsichere Kandidatin für den ontologischen Ehrentitel „Substanz“. Da mussten
wir überlegen, was denn die Kriterien für „Substanz“ sind und so haben wir
Ontologie an einem konkreten Fall betrieben. Die okkasionelle Ontologie kann
die theoretisch vorgegebene bestätigen, ergänzen, präzisieren – oder aber in
Frage stellen, relativieren, vielleicht sogar umstoßen. Da könnte man dann
eventuell von „Ontographie“ sprechen: wenn bestimmten Sachen bestimmte
ontologische Prädikate innovativ zugeschrieben werden. Da könnte man auch von
„revisionärer“ Ontologie sprechen, um den Sprachgebrauch aufzugreifen, den Uwe
Meixner von Peter Strawson übernimmt, der zwischen deskriptiver und
revisionärer Metaphysik unterscheidet.[1] Da nach Meixner die Ontologie
grundsätzlich „nur“ deskripitiv ist und weder kausale noch finale Erklärungen
liefert, wird man eine „revisionäre“ Ontologie wohl besser der „traditionellen“
gegenüberstellen. Beispiel für eine – allerdings auch schon seit langem
bestehende – revisionäre, in diesem Fall wohl eher „minoritäre“ Ontologie:
diejenige von David Hume, der Eigenschaftsindividuen wie „perception“ oder
„impression“, die traditionell als Akzidenzien gelten, für Substanzen hält, die
sich zu Komplexen wie „Körper“ oder „Ich“ fügen. Wenn ich mich zu einer eigenen
Ontologie entschließen würde, würde ich wohl in eine ähnliche Richtung gehen,
die ich ja mit der „Philosophie der Erscheinungen“ schon eingeschlagen habe,
und würde sie „Akzidenzialismus“ nennen. Wobei ich Ansätze dazu auch bei
Aristoteles aufsuchen würde (beim „protagoräischen“ Aristoteles).[2]
Uwe Meixner versteht unter „Ontologie“ genau das,
was auch ich gemäß dem Buch IV der aristotelischen Metaphysik so nenne,
umschreibt sie aber auch als Darstellung der „Grundstrukturen des Wirklichen und
Nichtwirklichen“ und obwohl seine Terminologie eher von der neueren
Analytischen Philosophie herkommt, greift er auch öfter auf die aristotelische
und scholastische Begrifflichkeit zurück und unterscheidet wie erwähnt zwischen
den Kategorien und den Transzendentalien.
Die traditionelle Kategorien-Unterscheidung
zwischen Substanz und Akzidens engt er auf Individuen ein, wobei die Substanzen
als unabhängige, die Akzidenzien als abhängige Individuen definiert sind. Als
Hauptbeispiele für Substanzen dienen ihm menschliche Personen, deren
Unabhängigkeit jedoch nur durch sorgfältige Unterscheidungen bzw.
Ausschließungen gesichert werden kann: eine Person, z. B. Otto, ist nur von
solchen Individuen unabhängig, die weder ein Teil von ihr sind (Gehirn) noch
von denen sie ein Teil ist (Weltraum).[3]
Ein Akzidens ist z. B. das Lächeln von Otto, also
eine vorübergehende Modifikation an ihm: ein Vorgang. Vorgänge, Grenzen sind
Akzidenzien. Oder aber Schatten, Spiegelbilder, Löcher, Eigenschaften.
Dasjenige Individuum, ohne das ein Akzidens nicht existieren kann, nennt
Meixner dessen „Träger“. Ein Akzidens kann auch mehrere Träger haben: das
Spiegelbild hat zwei: das gespiegelte Individuum sowie dasjenige, auf dem das
Spiegelbild erscheint. Beispiel dafür, dass die ontologische Betrachtungsweise
auch zu ganz bestimmten Sachen treffende Feststellungen machen kann (obwohl das
nicht ihre erstes Ziel ist). Eine Ehescheidung ist ein Vorgang, der ebenfalls
ein mehrträgerisches Akzidens ist.[4]
Meixner setzt als höchsten Begriff der Ontologie
den der „Entität“ an, nicht den des „Seienden“. Statt „Kategorien“ sagt er auch
„oberste Seinsarten“, und die höchsten sind für ihn „Objekt“ und „Funktion“.
Objekte sind „gesättigte“ Entitäten, Funktionen sind „ungesättigte“ Entitäten.
Unter den Objekten stehen nicht nur die Individuen (z. B. Uwe Meixner,
Regensburg), sondern auch die Typenobjekte (Buchstabe A, Homo sapiens sapiens,
Platonische Ideen) sowie die Sachverhalte (z. B.: Regensburg liegt an der
Donau) – in deren Einführung besteht wohl die einschneidendste Differenz zur
antiken Ontologie. Unter den Funktionen: die Eigenschaften und die Relationen.
Mit dem eben genannten Begriff „Vorgang“ ist
Meixner ganz in die Nähe des Begriffes „Ereignis“ gerückt: eigentlich zwei
Synonyme. Wie gesehen kann er den Begriff „Vorgang“ als Akzidens in einer
aristotelischen Ontologie unterbringen. Einige seiner früheren Publikationen
situieren jedoch diesen Begriff als ontologischen oder ontologiehistorischen
Gegenbegriff zu Substanz und in diesem Sinn sind auch wir schon auf ihn zu
sprechen gekommen.[5] In seiner durchgeführten
Ontologie kommt jedoch Meixner zu dem verblüffenden Ergebnis, dass Ereignisse,
an deren Existenz gar kein Zweifel besteht (Beispiel: Untergang der Titanik,
Zweiter Weltkrieg) unverstandene Entitäten sind, über deren präzise logische
Charakterisierung keine Einigkeit besteht, und dass sie jedenfalls bis jetzt
als „kategorial heimatlose“ Entitäten zu gelten haben.[6]
Nach dem derzeitigen Stand der ontologischen Diskussion sei unklar, ob sie den
Objekten oder den Funktionen zuzurechnen seien oder einen Platz neben ihnen
einnehmen. Im übrigen behauptet Meixner eine ähnliche kategoriale
Heimatlosigkeit auch für Zahlen und Mengen (die doch in der Mathematik zu den
meistgebrauchten Entitäten gehören).
Historisch unterscheidet Meixner zwei Tendenzen in
Sachen Ontologie: nach Platon habe sich eine Bevorzugung der Individuen,
besonders der physischen Individuen, abgezeichnet, welche Tendenz bis heute
anhalte. Doch seit dem 19. Jahrhundert mache sich eine andere Tendenz
bemerkbar: eine Bevorzugung der Sachverhalte und Ereignisse – wobei die
Ereignisse mit Sachverhalten eng verbunden seien, weil ihr Gehalt stets in
Sachverhalte zerlegbar sei, auch wenn sie selber keine Sachverhalte seien.[7]
Die Feststellung solcher historischer Tendenzen
führt Meixner zur Frage, ob sich ein ontologischer Vorrang zwischen den oberen
Kategorien behaupten lasse, speziell innerhalb eines sogenannten „ontologischen
Dreiecks“ aus Individuen, Typen, Sachverhalten. Er meint, es lassen sich
Argumente für jede der drei Kategorien finden, vor allem für die Sachverhalte.
Aber keine derartige Argumentation sei schlüssig.[8]
Wie vor allem aus der kategorialen Heimatlosigkeit
wichtiger Entitäten hervorgeht, ist für Meixner die Ontologie, gerade weil sie
sich strengen Kriterien unterwirft, von hartnäckigen Erkenntnisperplexitäten
gezeichnet und wohl unaufhebbar ein unvollständiges Unternehmen – in dem
gleichwohl Erkenntnisfortschritte möglich und sogar wirklich sind.
Walter Seitter
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Sitzung vom 7. Jänner 2015
[1] Siehe Uwe Meixner: Einführung in die Ontologie (Darmstadt
2011): 44
[2] Siehe Walter Seitter: Physik des Daseins. Bausteine zu einer
Philosophie der Erscheinungen (Wien 1997). Meine Philosophische Physik
versteht sich nicht in erster Linie als Ontologie, hat aber mir ihr die
deskriptive Vorgangsweise gemeinsam.
[3] Siehe Uwe Meixner: op. cit:
38ff.
[4] Siehe Uwe Meixner: op. cit.:
43.
[5] Siehe Uwe Meixner: Ereignis und Substanz. Die Metaphysik von
Realität und Realisation (Paderborn 1997); ders.: Die Ersetzung der
Substanzontologie durch die Ereignisontologie und deren Folgen für das
Selbstverständnis des Menschen, in: R. Hüntelmann (Hg.): Wirklichkeit und Sinnerfahrung (Dettelbach 1998)
[6] Siehe Uwe Meixner: Einführung in die Ontologie (Darmstadt
2011): 167ff.
[7] Siehe Uwe Meixner: op. cit.:
199ff.
[8] Siehe Uwe Meixner: op. cit.:
203ff.
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