τὸ μὲν οὖν αἰσθάνεσθαι ὅμοιον τῷ ... νοεῖν.

Das Wahrnehmen nun ist ähnlich dem ... vernünftigen Erfassen.

Aristoteles (De Anima III, 7: 431a)

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Mittwoch, 16. Dezember 2020

In der Metaphysik lesen (1068b 7 – 1069a 17)

   In der Welt der Veränderungen – und das ist die hiesige - überlegt Aristoteles, welchem Schema sie folgen, um wirklich stattfinden zu können: etwas entsteht von einer Bestimmung aus zu einer anderen Bestimmung hin. Es braucht also zu einem Entstehen außer dem Entstehen ein „etwas“ und eine Ausgangsbestimmung und eine Zielbestimmung. Also ein Substrat- oder Wesenhaftes und zwei Akzidenzien und das Entstehen. Das Entstehen allein macht noch keine Entstehung – auch nicht wenn es sich reflexiv verdoppelt und aufbauscht. 

 

Auch ein bestimmteres Werden, nämlich das Lernen, das immerhin als Wissend-Werden, als Übergang von einem Unwissen zu einem Wissen, definiert ist, hält er für unmöglich, sofern es sich in reiner Reflexivität verselbständigt: mathesis matheseos (1058b 14).

 

Ist nicht von der modernen Curriculumspolitik das „Lernen des Lernens“ zum offiziellen Lernziel erklärt worden, weil man die Schule von unbegrenzter – und daher unmöglicher - Stoffvermittlung entlasten will? Ja diese Einsicht teilt die neuere Didaktik mit der aristotelischen Unbegrenztheitskritik. Daher verlegt sie ihre Zielbestimmung auf die viel eleganter klingende Reflexivitätsprogrammatik. 

 

Dabei handelt es sich tatsächlich um eine sinnvolle Umstellung oder soll man sagen „Kopernikanische Wendung“? Jedoch wird sich diese reine Reflexivität spätestens beim Versuch der Realisierung als undurchführbar erweisen. Sie stellt eine andere Version von Unbegrenztheit, vielleicht eine weniger „schlechte“ Unbegrenztheit dar. Aber eine, die sofort scheitert, weil sie den Weg zu den Bestimmtheiten gar nicht auf sich nimmt. Eine elegante Abkürzung - zu gar nichts. Die Grenzenlosigkeit der Hinzufügung wird durch diejenige der Teilung ersetzt. 

 

Die mathesis matheseos erinnert sehr daran, dass für Aristoteles selbst die Wahrnehmung, die sich per definitionem auf äußeres Wahrnehmbares richtet, immer auch den Wahrnehmungsakt erfasst: man könnte also von aisthesis aistheseos sprechen. Und zwar zurecht. 

 

Jedoch: „Es scheinen aber die Wissenschaft, die Sinneswahrnehmung, die Meinung und Überlegung immer auf ein anderes zu gehen, auf sich selber nur nebenbei.“ (1074b 35) Nur „parergisch“. 

 

Mit der Reflexität des Lernens steht es auch so. Es lernt jemand das Lernen kaum, wenn man ihm eintrichtert, er habe ja „nur“ das Lernen zu lernen oder er dürfe auf der Höhe der „Exzellenzforschung“ das Lernen lernen. Man wird es am ehesten dann lernen, wenn man mit Erfolg „etwas“ lernt und im Genießen des Gelingens eines solchen Lernens spürt, so oder so ähnlich auch anderes lernen können zu werden. 

 

Ein anderes hoch klingendes Attribut ist das Unbewegte. Aristoteles insistiert darauf, dass damit zweierlei gemeint sein kann. Eine Eigenschaft, die solchem zukommt, das von Bewegung gar nicht affiziert werden kann. Und eine Eigenschaft, die solchen Dingen zukommt, die sehr wohl bewegt werden können, aber jetzt gerade beziehungsweise aus irgendwelchen Gründen dessen beraubt sind. Sie „ruhen“ aufgrund eines Ausfalls – wie etwa ein Geschäft ruht oder etwas aristotelischer die Erde. Diese privative Unbewegtheit gehört in den Bereich der Physik. Die andere in einen anderen. 

 

Zuletzt wird noch auf den Begriff des Ortes zurückgegriffen und daran die Frage geknüpft, ob er nur in der Physik oder auch in der Mathematik eine Rolle spielt – womit wiederum die beiden „ersten“ theoretischen Wissenschaften evoziert werden und im Grunde genommen ein Schritt vor diese hier gegründet werden sollende sogenannte Metaphysik gesetzt wird, die ja angeblich die „dritte“ theoretische Wissenschaft sein soll. 

 

Ein merkwürdiger Schlusspunkt dieses Buches XI, das von Anfang an einen schwachen Eindruck gemacht hat. Nach den Büchern VII, VIII, IX und X, die unterschiedliche Seinsmodalitäten – Wesen, dynamis und energeia, eines – abhandlungsartig durchgenommen haben, beginnt das Buch XI als Aufguß von ganz grundsätzlichen Überlegungen aus den Büchern I, II, III, IV, die allesamt die Fragerichtung, die Stoßrichtung, die Thematik dieser „Weisheit“ oder „gesuchte Wissenschaft“ genannten mehr oder weniger neuen Wissenschaft festlegen wollen, bis es sich dann entschließt, sie „Theologie“ nennen zu wollen. Aber gleich merkt, dass der Titel eigentlich unpassend weil zu eng begrenzend erscheint, sodaß sich der Text dann auf die untere Randzone der Ontologie, also die Akzidenzien und die Veränderungen wirft, um schließlich mit dem „Unbegrenzten“ und dem „Unbewegten“ zwei höchst schillernde Qualitäten unter die Lupe zu nehmen, die vielleicht einen rutschigen Weg zum Nächsten andeuten können. Wozu ausgerechnet Stücke aus der aristotelischen Physik aufgegriffen und verwendet werden.

 

Kein Wunder, dass dieses Buch XI die Aristoteles-Leser scheidet. Und zwar nicht nur in solche und solche Kommentatoren, sondern in solche, die dennoch weiterlesen und irgendetwas herauszulesen versuchen, und solche, die auf die eine oder andere Weise kapitulieren – entweder resignativ und quietistisch oder polemisch und aggressiv (gegen wen auch immer). 

 

Also in Leser und Nicht-Leser. Unter den literarisch namhaften und standhaften Lesern nenne ich jetzt nur noch einmal den amerikanischen Metaphysik-Übersetzer Joe Sachs. 

 

Walter Seitter

 

Nächste Sitzung am 13. Januar 2021

Mittwoch, 9. Dezember 2020

In der Metaphysik lesen (1068a 8 – 1068b 6)

 Hartnäckig setzt der Text seine analytische Differenzierung der Bewegungen (und der anderen Veränderungen) fort, wobei er die Kategorienlehre als theoretischen Raster zugrundelegt. Dennoch ist nicht leicht zu erkennen, worauf der Text hinauswill.

Es ist ja nicht so, dass der Begriff der Veränderung hier eingesetzt wird, um einen bestimmten Realtätsbereich zu analysieren. Dies geschieht etwa in der aristotelischen Politik, in den Büchern IV bis VI, unter dem Stichwort „Verfassungswandel“, wo sehr viele verschiedene Fälle von formellen und informellen Verfassungsänderungen durchgenommen werden – ein Thema, dessen Aktualität bis heute anhält und die Politikwissenschaft ebenso interessiert wie die Geschichtswissenschaft. 

Hier jedoch legt sich die subtilere Frage nahe, worauf der Text überhaupt hinauswill. Mit dieser Formulierung unterstelle ich, dass ein Text – auch dann und gerade dann, wenn er wie dieser da schon vorliegende Textstücke von wo anders hernimmt und neu einsetzt – irgendetwas anstrebt. Ich unterstelle ihm eine Intention, denn er würde von Aristoteles nicht bloß als logos, also Aussage, bezeichnet werden, sondern näherhin als eine pragmateia – also eine Abhandlung und folglich eine Handlung, also eine Aktion. Eine Denk-, Schreib-, Textaktion, die in aller Regel eine Antwort auf eine Frage, einen Ausweg aus einer Aporie sucht. Solche Absichtserklärungen sind im Text immer wieder anzutreffen – und natürlich sind sie selber textuell.

Ein besonders deutliches Beispiel dafür haben wir im Abschnitt 7 von Buch XI gefunden, wo es heißt, dass die hier gesuchte Wissenschaft „Theologie“ genannt werden soll und dass die Gegebenheit eines „abgetrennten und unbewegten Wesens“ demnächst aufgewiesen werde soll. (1064a 35f.) Doch wenige Zeilen später schlägt der Text eine ganz andere Richtung ein und wirft sich auf die Akzidenzien, von denen angeblich gar nicht wissenschaftlich geredet werden kann, auf die Bewegungen und die anderen Veränderungen, auf die Abweisung eines aktual Unbegrenzten, auf die verschiedenen Sorten von Substrat, die von Veränderungen vorausgesetzt werden – einschließlich Nicht-Substrat und Nicht-Seiendes.

Eine beinahe „disruptive“ Veränderung in der Textproduktion, die ja ihrerseits als eine Bewegung oder Veränderung gelten kann.

Jetzt, im Abschnitt 12, wird die Frage aufgeworfen, ob Veränderungen in sich selber, also sozusagen immanent und reflexiv, verändert werden können – womit sie selber „Subjekt“ und sogar „Substrat“ werden würden. Dies wird von Aristoteles verneint, weil damit einem „Unbegrenzten“ Tür und Tor geöffnet werden würde: damit würde auch eine „Entstehung der Entstehung“ angenommen werden müssen und es würde kein Erstes angenommen werden können. „Es könnte demnach kein Entstehen, kein Bewegtwerden und keine Veränderung geben.“ ((1068b 5).

Wir diskutieren darüber, ob diese Argumentation nachvollziehbar ist. Nehmen wir aus dem lakonischen Satz „Das Musische geht.“ (1067b 2) das Prädikat heraus, so drückt dieses „geht“ eine Bewegung in zweierlei Sinn aus: es fängt an zu gehen und es setzt seine Gehbewegung fort. Die damit verbundene Veränderung, nämlich Ortsveränderung, kann sehr wohl verändert werden, und zwar nicht nur durch seine Beendigung, also durch Stehenbleiben, sondern auch „immanent“ durch Verlangsamung oder Beschleunigung.

Insofern wird die Bewegung tatsächlich zu einem Substrat von Veränderung. Gleichwohl bleibt das andere oder eigentliche oder wesenhafte Substrat ebenfalls in seiner Position und Funktion als Zugrundeliegendes – entweder das sogenannte Musische oder irgendjemand.

Beim Entstehen, also bei einer wesenhaften Veränderung, könnte man der aristotelischen Angst vor dem Unbegrenzten Verständnis entgegenbringen, insofern jedem Anfang oder Ursprung ein früherer vorgeschaltet werden müsste. Geht man jedoch von einem Gewimmel vieler Mitursachen oder niedriger Anfänge aus, würden die vielleicht als etwas ungefähr „Unendliches“ geschildert werden können, wofür Michel Foucault seinerseits eine Art von „Historie“ vorgeschlagen hat. [1]

Innerhalb des Ablaufs von kontingenten und dennoch mehr oder weniger notwendigen akzidenziellen Veränderungen zwischen Gesundsein und Kranksein oder zwischen Erinnerung und Vergessen drohen wohl keine theoretischen Aporien. Erwünschte oder unerwünschte Extremzustände sind da natürlich möglich – so auch die beiden von Aristoteles genannten Zustände namens „Wissenschaft“ oder „Unwissenheit“. (1068a 33)

Die Veränderung oder Bewegung in Richtung Wissenschaft ist diejenige, die in diesem, nämlich im gelesenen Text versucht wird.

 

Walter Seitter 




[1] So Michel Foucault 1969-1970 in seiner Vorlesung in Vincennes, die ich selber gehört habe. Siehe ders,: Nietzsche, die Genealogie, die Historie, in: ders.: Von der Subversion des Wissens (München 1974)

Mittwoch, 2. Dezember 2020

In der Metaphysik lesen (1067b 25 – 1068a 6)

 Die Kommentare von Karl Bruckschwaiger und Wolfgang Koch setzen an dem Satz „Das Musische geht.“ (1067b 2) an, den ich so übersetzt habe, um die Übersetzung von Karl Schwarz - „Ein Musischer geht.“ - zu korrigieren. Offensichtlich wollte Schwarz das Befremdliche des Satzes, in dem sowohl das Subjekt wie auch das Prädikat „nur“ aus akzidenziellen Bestimmungen bestehen, beseitigen, indem er mit dem männlichen Geschlecht ein menschliches Wesen als grammatisches Subjekt andeutet. Diese normalisierende Beseitigung scheint mir nicht statthaft zu sein, weil sie dem Text eine Fremdheit nimmt, die ihm eigen ist. Insofern habe ich mich an die Übersetzung von Bonitz angelehnt, allerdings statt „gebildet“ „musisch“ eingesetzt, um der Schwarz-Übersetzung näher zu bleiben. 

Der Satz widerspricht sogar einer aristotelischen Regel, die hier schon öfter zitiert worden ist, dass nämlich kein Akzidens einem anderen Akzidens zukommen kann (Met. IV, 1007a 20ff.). 

In der Vorlage des Satzes, nämlich in Phys. 224a 2, wird der akzidenzielle Charakter des Musischen oder Gebildeten, also das Subjekts, sogar ausdrücklich hervorgehoben: „’Etwas Gebildetes schreitet aus’, weil eben etwas ausschreitet, dem es nebenbei auch zutrifft, gebildet zu sein.“

 

 

Was dieser extrem „künstliche“ Beispielsatz vorführen soll, das tut er allerdings mit dem Prädikat „geht“ – damit wird dem Musischen eine akzidenzielle Veränderung zugesprochen, nämlich, dass „es“ sich in Gang setzt bzw. weitergeht. 

Der winzige Satz bedarf noch einer weiteren Erläuterung, die allerdings gar nichts Neues verkündet, nämlich dass die Eigenschaft „musisch“ (oder „gebildet“) – neben „weiß“ – die am allerhäufigsten beispielhaft genannte akzidenzielle Bestimmung ist. Eine mögliche Bestimmung, die immer nur an Menschen vorkommt – oder eben nicht vorkommt. Und die auch abhanden kommen kann, was aber dem Weiterbestehen des zugrundeliegenden Wesens (oder Individuums) keinen Abbruch tun muß, wie wir im Buch Über Werden und Vergehen gelesen haben. 

Daß diese kontingente Menscheneigenschaft eine eher erwünschte und unter günstigen Umständen durch Erziehung hergestellte bzw. geförderte sein dürfte, kann man annehmen. Insofern ist sie ein Ziel der Erziehung, die ihrerseits eine praktische oder eine poietische (technische) Tätigkeit (?) ist, und vielleicht sogar in einer praktischen oder in einer poietischen Wissenschaft, also in einer Erziehungskunde, gelehrt werden kann. Aristoteles hat diese Aufgabe hauptsächlich als eine politische zum Thema gemacht – und zwar in seiner Politik.

Ein großer Automatismus namens „Teleologie“ wird von ihm dabei nicht vorausgesetzt – und ein „Musenschmus“ auch nicht. 

 

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Karl Bruckmaier bleibt bei der Frage, ob das Subjekt jenes Satzes nur grammatisches Subjekt oder auch ontologisches, also „Substrat“ sein kann. Zur Begriffsgeschichte kann nachgetragen werden, dass die Reihe der lateinischen „Sub“wörter bis hin zur Substanz dank Cicero mithilfe des griechischen Begriffs hypostasis erweitert worden ist, der aus der antiken Naturwissenschaft stammt (und später für die christliche Theologie wichtig geworden ist). 

                               *            

 

In der zuletzt gelesenen Passage ist eine weitere Vervielfältigung der Veränderungen auch noch dadurch formulierbar geworden, dass dem Begriff „Substrat“ das Präfix „Nicht“ vorangestellt worden ist. Thomas Buchheims Kommentar zur Wesensveränderung würde erlauben, daraus eine terminologische Schlussfolgerung zu ziehen – und den zusammengesetzten Begriff „Nichts-Substrat“ zu bilden. 

 

Der wiederum leitet über zu dem Satz in 1067b 25, der vom -Nicht-Seienden genau das sagt, was der Grundsatz 2 in der Gründung der Ontologie im Buch IV vom Seienden gesagt hat; dass es in vielfachen Bedeutungen ausgesagt wird. Womit das Nicht-Seiende an einer entscheidenden Stelle mit dem Seienden gleichgesetzt wird. Vor einigen Wochen haben wir darüber diskutiert, ob nicht genau damit das „als“ des „Seienden als Seienden“ expliziert wird.

 

Jetzt wird die Differenzierung der verschiedenen Sorten von Bewegungen und anderen Sorten von Veränderungen (die nicht als Bewegungen gelten) so vorangetrieben, dass gewisse, man könnte sagen „extreme“ ontologische Begriffe dazu eingesetzt werden, insbesondere minimale, wie das Nicht-Seiende. Dabei kann es sich nur um relative Nicht-Seiende handeln, die auch durch „positive“ Ausdrücke bezeichnet werden, „wie etwa das Nackte, Stumme und Schwarze“ (1068a 6) Aristoteles spricht ihnen privative Bedeutungen zu. 

Wiederum und jetzt in einer kleinen Serie drei Eigenschaften, bloße Eigenschaften ohne Angabe von Trägern, als welche sich wiederum Menschen nahelegen würden. Alle im dem dritten, dem neutralen Geschlecht, das man ebenso als Nicht-Geschlecht bezeichnen könnte, um die Serie der „Nicht“-Begriffe fortzusetzen. Jedes der drei würde einen Kommentar verdienen, das Nackte zum Beispiel würde das Nicht-Geschlecht denn doch relativieren, denn es beendet die Verbergung des Geschlechts. 

 

 

Das Stumme, wenn man es auf Menschen bezieht und nicht irgendwie „literarisch“ glorifiziert, würde an seinen spektakulärsten Vorläufer in diesem Buch, überhaupt an die dramatischste Erscheinung eines irgendwie „Nicht-Seienden“ in der sogenannten Metaphysik denken lassen: an das Verstümmelte, jenes extrem akzidenzielle weil unfallhafte Akzidens, das im Buch V Aufnahme in die Reihe sogenannter Hauptbegriffe und sogar Grundworte gefunden hat. Dort wird es explizit vom Vernichteten unterschieden, wobei der elementare ontologische Unterschied zwischen Wesen und Akzidens die Unterscheidung ermöglicht. Absetzung vom Nicht-Seienden, mit knapper Not Rettung auf die Seite des Seienden. Doch-Seiendes.

 

Aber es verbleibt in der Randzone der Ontologie, die man Meontologie nennen könnte: eine untere Randzone, in der scharfe Absetzungen mit dosierten Unschärfen koexistieren. Ein unterer Rand, der mit dem „als“ des Seienden als Seienden doch auch das Zentrum der Ontologie bildet.

 

Walter Seitter

Mittwoch, 25. November 2020

In der Metaphysik lesen (1067b 1 – 24)

 Kommentar von Gerhard Weinberger (19. November 2020)

 

Levinas spricht ja nicht so sehr vom Unendlichen als solchem, sondern von der "Idee des Unendlichen" (idée de l'infini), die den Menschen inhärent und unausrottbar innewohnt (die ja auch Aristoteles innewohnt). Sonst würde er wie ein Tier dahinleben. Und er gibt ihr einen sehr endlichen Rahmen, "disqualifiziert" sie sozusagen im aristotelischen Sinn: nämlich den Menschen, und zwar als "Anderem" zunächst, als "Drittem = Gesellschaft" in einem weiteren Schritt. Damit setzt er sich von theologischen "Spintisierereien" und Phantasereien ab und bleibt "erdgebunden'", was ihm ja den Vorwurf des Atheismus eingebracht hat. Natürlich räumt er damit dem Menschen eine Sonderstellung ein. Descartes geht davon aus, dass alles im Menschen endlich sei außer seinem Willen. Levinas greift das auf und ersetzt Willen durch Verantwortung. Darüber kann man natürlich streiten.Letztlich geht es ihm darum, was das Menschliche im Menschen ist oder sein bzw. werden kann. An sich ein sehr "dynamisches" Denken.

 

Gerhard Weinberger

 

 

Wolfgang Koch hat am 16. November 2020 zum „Supplement zur Minimalontologie“ (9. November 2020) einen Kommentar verfasst (im Blog). Darin kritisiert er „den grundlegenden Mangel der Ontologie: ihre Statik“ und er plädiert für mehr „Dynamik“, die Weinberger auch für Levinas in Anspruch nimmt.

 

  Da müsste man die textexegetische Frage von der theoriekritischen unterscheiden. Wie gerade zuletzt festgestellt worden ist, fehlt es bei Aristoteles keineswegs an „dynamischen“ Theorieelementen: die „Bewegung“ ist ein Hauptbegriff der Physik und damit auch der Metaphysik (die zu mindestens 60% aus Physik besteht): der Komplex Vermögen-Verwirklichung steht exakt für „Dynamik“. Andererseits steht für die Statik der Hauptbegriff „Wesen“ (das wiederum von den Akzidenzien besetzt und beunruhigt wird). Die poietischen und praktischen Wissenschaften, die fürs menschliche Tun zuständig sind, werden allerdings von Aristoteles von der Ontologie eher ferngehalten – darin sehe ich eine gravierende Schwäche derselben (die doch alle Seinsmodalitäten berücksichtigen und gewichten sollte). 

Die aristotelische Metaphysik scheint eine Balance aus Stabilität und Bewegung (Stabilität durch Bewegung) zu artikulieren und verweigert sich sozusagen „natürlich“ der Dynamik-Entgrenzung und dem Ohnmacht-Allmacht-Spiel, die seit der frühen Neuzeit (Descartes) den Fortschritt in Gang gesetzt haben, welcher die Vermenschlichung der Erde so weit getrieben hat, dass ihre jüngste Epoche „Anthropozän“ genannt wird.

 

 

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Im Abschnitt 11 konzentriert sich der Text auf Veränderung und Bewegung (die beiden Begriffe stehen einander bei Aristoteles näher als in unserer Sprache). Das jedenfalls suggeriert der Übersetzer Franz Schwarz mit der Betitelung des Abschnittes, der außerdem eine Übernahme des ersten Abschnittes von Buch V der Physik sein soll. Daraus ergibt sich, dass der Abschnitt 11 – gewissermaßen XI hoch 11 – selber durch eine Art „Bewegung“ zustandegekommen ist: aus dem bereits vorliegenden Buch der Physik wurde ein Teil herausgenommen, verändert, hauptsächlich gekürzt und in das neue, gerade entstehende, irgendwie nicht vollendet werden wollende und angeblich „Theologie“ heißen sollende, eingefügt. 

Natürlich kann sich der heutige Leser Fragen, was mit so einer Wiederholung erreicht worden ist. Thematisch ja wohl eher eine Bekräftigung der „Dynamik“, performativ hingegen eine Verstärkung der „Statik“, wann „dasselbe noch einmal“ als „statisch“ gelten können soll. Aber derartige Schematisierungen reichen an das Rätselhafte dieser Komposition kaum heran.

Der Text beginnt typisch aristotelisch mit einer Klassifikation zuerst der Veränderung, dann der Bewegung. Der Fall der akzidenziellen Veränderung wird mit einem kleinen Satz vorgeführt: „Das Musische geht.“ Hier übernehme ich die Übersetzung von Bonitz, die wörtlich exakt das Subjekt ins neutrale Geschlecht setzt, obwohl sowohl das Musischsein wie auch das Gehen typischerweise einem Menschen, also einem Mann oder einer Frau, zukommen müssten. Wieso „das Musische“? Wird es damit zu einer „philosophischen“ Abstraktion gemacht? Jedenfalls sind in diesem Satz sowohl Subjekt wie auch Prädikat Akzidenzien – es scheint da gar kein Wesen vorzukommen. 

Sodann die schlechthinnige Veränderung: Veränderung des ganzen Körpers, die von einem Teil ausgeht.

An sich bewegt werden, aktives Bewegen im akzidenziellen Sinn oder dem Teil nach oder an sich. Von einem ersten Bewegenden kann etwas bewegt werden oder es wird in einer Zeit bewegt oder es wird von einem Zustand zu einem anderen bewegt. Diese Zustände, etwa Wissenschaft oder Wärme, sind keine Bewegungen. Darüber hinaus gibt es die Wesensveränderungen, die zu kontradiktorischen Gegenteilen führen. 

Es folgt eine höchst merkwürdige Verkettung von Distinktionen, die den Begriff des Substrates mit seiner Negation, also mit Nicht-Substrat, verknüpfen und auf diese Weise eine wie es scheint extrem fundamentale Klassifikation der Veränderungen artikulieren; denn üblicherweise gilt das Substrat als dasjenige, was bei einer Veränderung gleichbleibend zugrunde liegt. Jetzt aber heißt es: „Es verändert sich das, was sich verändert, entweder aus einem Substrat in ein Substrat oder aus einem Nicht-Substrat in ein Nicht-Substrat oder aus einem Substrat in ein Nicht-Substrat oder aus einem Nicht-Substrat in ein Substrat, sodaß sich notwendigerweise drei Veränderungen ergeben: die Veränderung nämlich aus einem Nicht-Substrat in ein Nicht-Substrat ist gar keine Veränderung ... Die Veränderung nun aus einem Nicht-Substrat in ein Substrat ... ist Entstehung ... Die Veränderung aus einem Substrat in ein Nicht-Substrat ist ein Vergehen ... “ (1067b 14ff.)

Anscheinend sind damit die Wesensänderungen gemeint – aber doch auch akzidenzielle. Merkwürdig die Terminologie, die den logischen Spezialausdruck „Substrat“ für jedwede Bestimmung einsetzt und außerdem auch noch mit der Negation operiert, ja die Negation mit der Negation verknüpft, obwohl das rein gar nichts ergibt.

 

Die obige Bemerkung, wonach bei jeder Veränderung ein gleichbleibendes Substrat vorausgesetzt wird, muß allerdings nach dem Kommentar von Thomas Buchheim zu Über Werden und Vergehen korrigiert werden – wie wir am 30. Oktober 2019 festgestellt haben. Danach stellt sich die Wesensveränderung dar als eine Veränderung aus einem Substrat in ein Nicht-Substrat und aus diesem eine Veränderung in ein anderes Substrat.

Damit ermöglicht die hier eingeführte negationistische Terminologie eine terminologische Formulierung für die Bedingung der Wesensveränderung, für die Thomas Buchheim den umgangssprachlichen Ausdruck „Kaputtgehen“ gebraucht hat (und leider auch die wienerische „schöne Leich’“.[1]


Walter Seitter

 


[1] Siehe Thomas Buchheim, op. cit.: XIX, XXIV.

Mittwoch, 18. November 2020

In der Metaphysik lesen (1067a 8 – 36)

 Bekanntlich kann man am Seminar auch durch einen schriftlichen Beitrag aktiv mitwirken und eine derartige Mitwirkung darf mehr oder weniger akribisch, mehr oder weniger spekulativ, mehr oder weniger polemisch ausfallen. Sogar die Bezeichnung für den gelesenen Autor kann so oder so formuliert werden und da nenne ich als Beispiel den schreibenden Aristoteles-Leser Thomas von Aquin (1225-1274), der statt des Namens den singularisierten Typenbegriff „Philosophus“ verwendet.

 

In der letzten Woche erreichte mich – über das Medium des Buches – eine sehr pointierte Zusammenfassung der aristotelischen Stellungnahme zum Unendlichen von Emmanuel Levinas (1905-1995); er nennt als ihren Urheber „die Philosophen“. Wohl eine allzu grobe Verallgemeinerung, denn selbst in der Antike war Aristoteles mit seiner Destruktion des Unbegrenzten eher eine Ausnahmeerscheinung. Im Jahre 1977 nach Christus hatte dann Leo Strauss allen Grund, die „unerreichte Nüchternheit“ des Aristoteles hervorzuheben. Immerhin waren 1972 die Grenzen des Wachstums erschienen.[1]

 

Schon seit dem Abschnitt 8 besteht das Buch XI aus Rückgriffen auf bestimmte Passagen der Physik. Das heißt: dieser Teil des Textes der Metaphysik besteht „physisch“ aus Teilen der Physik, die wiederholt, wieder hergeholt und abgewandelt eingesetzt werden. Der Text der Metaphysik geht so weiter, wie er weitergeht, indem andere Texte herbeigeholt und eingesetzt, interpoliert werden, interpoliert zwischen die davorliegenden Passagen mit der ziemlich unklaren ja eigentlich fälschlichen Ankündigung von „Theologie“ und der in Buch XII dann wohl doch stattfinden werdenden Durchführung der Theologie. Was jetzt geschieht, ist eine physisch-textuelle Hinausschiebung der aristotelischen Theologie. Eine kleine textimmanente „Katechontik“, die vielleicht auf eine größere katechontische Funktion der aristotelischen Philosophie verweist.[2]

 Und gedanklich, inhaltlich handelt es sich sozusagen um einen „Rückfall“ in die Physik, sodaß man sagen muß, die Metaphysik wird „physikalistisch“, die Metaphysik verzichtet darauf, eine Etage über der Physik zu errichten und auszubauen, sie verzichtet jedenfalls hier darauf, eine „andere Physis“ in Betracht zu ziehen, wie das in Abschnitt 7 in Aussicht genommen worden war. 

 

Die Nivellierung des Gefälles zwischen Metaphysik und Physik, die stellenweise, lokale, „topische“ Reduzierung der sogenannten Metaphysik auf die Physik, die mit der Destruktion des Unbegrenzten, mit der Reduktion des Unbegrenzten auf das Begrenzte konkret durchgeführt worden ist, kann man sie nicht als „Physikalismus“ bezeichnen? Und sogar als „antimetaphysische“ Stoßrichtung, die sich zumindest hier in dieses Metaphysik genannte Buch einschleicht?

In den letzten bereits gelesenen Zeilen sind die Strukturen des Begrenzten auf das größtmögliche Format ausgeweitet worden: auf das „All“, also das Universum, wo das Unbegrenzte denn doch eine Existenzchance haben sollte. Aristoteles erwähnt Heraklit, der die Elementenlehre mithilfe des Begriffs des Einen umzudeuten versucht hat. (Siehe 1067a 3ff.). Der Begriff des Einen, dem das ganze Buch X gewidmet war, ist zwar ein ontologischer Grundbegriff, er liegt aber bei Aristoteles nicht auf der Ebene der Wesen und damit auch nicht auf der Ebene der Elemente.

Der Text kommt wieder auf den maßgeblichen Wesensbegriff der Physik, den sinnlich wahrnehmbaren Körper, zurück, interessiert sich jedoch für ein notwendiges Akzidens desselben: das „(irgend)wo“, das auch mit dem Begriff des Ortes umschrieben werden kann. Hier stoßen wir auf eine andere Definition des Akzidens: nicht als „Ausnahmegeschehen“, wie im Abschnitt 8 eingeführt (und übernommen aus dem Buch VI); sondern im Sinn der Kategorienlehre, wo die Akzidenzien im einzelnen als kontingente Bestimmungen, generell jedoch als notwendige Eigenschaftsdimensionen eingeführt worden sind.  

 

Seit dem Abschnitt 8 geht es jetzt „nur“ noch um Akzidenzien - von denen es angeblich keine Wissenschaft gibt. Wiederum eine ziemlich selbstwidersprüchliche Aussagenkonstellation, über die man sich als Leser wundern darf. Wenn man schon in diesem Buch XI kaum Neues erfährt, so kann man immerhin erfahren, dass sich der Text in Widersprüche verstrickt. Und das ist bei Aristoteles doch einigermaßen neu. Man erfährt es nur, wenn man bereit ist, hinzusehen; anstatt schon alles zu wissen, da er bekanntlich ein antiker Philosoph ist.

 

Das notwendige Akzidens, ohne das es bei den sinnlichen Körpern nicht abgeht, ist also das pou oder der topos, das „wo“ oder der „Ort“ – oder der „Raum“, wie Hermann Bonitz übersetzt hat und damit wiederum in der Falle des 19. Jahrhunderts steckt - wie mit dem „unendlich“. Denn der „Raum“ führt, jedenfalls im Singular, allzu leicht in die Irre des Unendlichen und womöglich Leeren. 

 

Aus dieser großen Irre hat sich das 20. Jahrhundert an mehreren Orten(!) herausgearbeitet. Obwohl ich zu den wenigen gehöre, die die Relativitätstheorie nicht so gut verstanden haben, dass ich sie so leichthin zu zitieren pflege, und da ich so ein ganz weniger bin, der Michel Foucaults Einführung der Heterotopie in die Philosophie 1984 ins Deutsche hineingeschrieben hat, fällt es mir ziemlich leicht, das aristotelische Insistieren auf den Örtern zu verstehen, aber nicht als selbstverständlich abzutun.[3]

 

Ein Ganzes und sein Teil verfügen über denselben Ort, etwa die Erde. Wenn das Ganze gleichartig (homogen) ist, so müsste es unbewegt sein oder in ständiger Bewegung – was unmöglich ist. Wenn aber das All ungleichartig (heterogen) ist, so sind auch die Örter seiner Teile ungleichartig; und erstens ist dann der Körper des Alls nicht einer, außer im Sinn der Berührung; zweitens sind die Teile der Art nach entweder begrenzt oder unbegrenzt. Nun können sie aber nicht begrenzt sein. Wenn aber Teile unbegrenzt und einfach sind, so sind auch die Örter unbegrenzt und ebenso die Elemente. Ist das aber unmöglich und sind die Örter begrenzt, so muß auch das All begrenzt sein. 

Diese Passage (welche die Klammern auslässt), resümiert in extremer Verkürzung eine vollständige Kosmologie, die nur wenige Begriffe bzw. Bestandteile berücksichtigt. Sie rekonstruiert das Weltall als Zusammensetzung aus Unbegrenztem (das nicht ganz ausgelassen werden kann) und Begrenztem, das zuletzt den Sieg davon trägt. 

 

Eine andere ebenso kurze Rekonstruktion des Weltalls operiert mit anderen Bestandteilen, nämlich mit den sechs Bewegungsrichtungen. Denn die wahrnehmbaren Körper sind auch die sich bewegenden. Da wird ebenfalls das Unbegrenzte eingeführt, und zwar wird es differenziert auf Größe, Bewegung, Zeit bezogen. 

Dieser Kosmologie-Abriß wird dann noch erweitert und man wird versuchen zu sehen, welchen Platz er in der Komposition des Textes einnimmt. 

 

Der Hausbau, der oben als Beispiel für zielorientierte Bewegung (Veränderung) eingeführt worden ist, scheint auf mehreren Ebenen metaphorisch bedeutsam zu sein – Textbau, Weltbau. 

 

Walter Seitter

 


[1] Donella und Dennis Meadows, Jørgen Randers, William Behrens: Die Grenzen des Wachstums. Bericht des Club of Rome zur Lage der Menschheit  (Stuttgart 1972)

[2] Zur Ausweitung  der vom Apostel Paulus erfundenen katechonischen Funktion siehe  M. Rauchensteiner und W. Seitter (Hg.): Tumult Schriften zur Verkehrswissenschaft 25: Katechonten. Den Untergang aufhalten (2001)

 

[3] Siehe Michel Foucault: Andere Räume, in: Idee Prozeß Ergebnis. Die Reparatur und Rekonstruktion der Stadt  (Berlin 1984)

Mittwoch, 11. November 2020

In der Metaphysik lesen (1066a 35 – 1067a 8)

  Eben hat Aristoteles die Bewegung, ein zentrales Thema der Physik und damit seiner Philosophie, am äußersten Rand des Möglichen (und Unmöglichen) angesiedelt, indem er sie in eklatantem Widerspruch zum Satz vom ausgeschlossenen Selbstwiderspruch, d. h. zum Sichersten Prinzip (laut Buch IV, 1005a 19ff.) als „Verwirklichung und Nicht-Verwirklichung“ bezeichnet hat, und nun geht er zu einem Begriff über, der auf unseren ersten Blick mit der Bewegung wenig zu tun hat.

In der Übersetzung von Hermann Bonitz lautet er: das „Unendliche“ – welches Wort sehr weite Konnotationen nahelegt, die ins Mathematische und sogar bis zum Theologischen reichen; in derjenigen von Franz Schwarz hingegen das „Unbegrenzte“ – das sich eher auf Physikalisches bezieht; der Abschnitt fasst denn auch einige Passagen aus der Physik zusammen. 

Zuerst einige Definitionen des Unbegrenzten, die durchaus „physikalisch“ vorgenommen werden. Unbegrenzt ist eine Ausdehnung oder ein Abstand, der von einem bewegten Körper nicht durchlaufen, nicht vollständig durchquert werden kann, nicht begrenzt werden kann oder aber faktisch nicht durchlaufen, durchquert, begrenzt wird. Oder unbegrenzt ist eine Ausdehnung, die ständig erweitert oder nach innen geteilt wird.

In der ersten Definition wird das Unbegrenzte gewissermaßen vorausgesetzt und dann als solches negiert; in der zweiten wird etwas Begrenztes vorausgesetzt und seine Entgrenzung negiert.

 

Sodann wird die in Frage stehende Unbegrenztheit entschieden in den Bereich der Sinnesdinge verwiesen und dort auf die Ebene von Größe und Menge und folglich von Akzidens gestellt, womit ihre selbständige Existenz ausgeschlossen wird. Das Unbegrenzte wird sogar als „Affektion der Größe“ bezeichnet, womit es als Akzidens an einem Akzidens eingestuft, herabgestuft wird – obwohl dies laut Buch IV (1007a 20ff.) gar nicht möglich sein soll. Als Akzidens hoch zwei – man möchte eher sagen Akzidens niedrig zwei und außerdem nur potenziell seiend und schließlich auch von Wesen und Prinzip ausgeschlossen wird das Unbegrenzte auf der nun ausführlich besprochenen Skala der Seinsgrade ordentlich nach unten degradiert, minimalontologisch diagnostiziert, beinahe schon meontologisch disqualifiziert. 

 

Das Unbegrenzte muß zwar in gewisser Weise vorausgesetzt werden – aber nur als Möglichkeit, nicht als Wirklichkeit. Es kann nicht Wesen sein und nicht Prinzip. Während das Gegenteil, nämlich die Grenze, fallweise als Prinzip auftreten kann. Im Begriffslexikon des Buches V wird denn auch das Unbegrenzte unter einem „positiven“ Stichwort – und das ist die Grenze! – besprochen. (1022a 4ff.)

 

Die eben referierten Qualifizierungen oder vielmehr Disqualifizierungen bestimmen das Unbegrenzte laut Aristoteles „allgemein“, das ist sein nicht sehr deutliches Wort für „ontologisch“. Aber auch da spielt er bereits auf Physik und Mathematik an: das Unbegrenzte ist etwa Akzidens der Luft oder der Geraden. (1066b 21)

 

Sodann bezieht er die Problematik direkter auf die Physik und deren Hauptbegriff, das ist der Körper (was sich noch nicht überall herumgesprochen hat). Ein Körper ist etwas von Flächen Begrenztes. Also kann kein Körper – nicht einmal ein bloß gedachter – unbegrenzt sein. Dazu wird argumentiert, dass das Unbegrenzte weder zusammengesetzt noch einfach sein kann. Ein zusammengesetzter Körper muß aus endlich vielen Elementen bestehen. Und diese müssen einander ebenbürtig sein; wenn das Vermögen, d. h. die Kraft eines Elements zurückbliebe, so würde dieses „unter dem Unbegrenzten“ erdrückt, zermalmt, vernichtet werden. (1066b 31) Ein unbegrenzter Körper kann aber auch nicht einer und einfach sein. Das Eine ist zwar zusammen mit dem Vielen eine durchgängige Bestimmung des Seinden als solchen - aber kein Wesen (wie im Buch X ausführlich dargestellt). 

 

Die Drohung der sozusagen endgültigen Vernichtung irgendeines Elementes oder Teiles, die Vision der definitiven Übermacht oder vielmehr Allmacht eines Elementes oder Teiles, diese eigentlich politische „Utopie“ scheint mir ein bemerkenswertes Argument für die ontologische und eben auch physikalische Degradierung des Unbegrenzten zu sein. 

 

Mit ihr setzt sich Aristoteles auf unterschiedliche Weise von vielen prominenten Vorgängern wie Anaximander, Heraklit, Anaxagoras, Pythagoras, Platon ab. Beinahe isoliert er sich unter den Philosophen und er nimmt das auch bewusst in Kauf, wenn er ironisch von der Verehrung spricht, die dem Unbegrenztheitsbegriff entgegengebracht wird – siehe Phys. III, 207a 15. 

 

Da ich davon im November 2020 lese und schreibe, überspringe ich immer schon mehr als zweitausend Jahre und würde nun sagen, dass sich der hier gelesene und wiedergelesene Text – Physik und Metaphysik - heute nicht nur gegen Anaximander und so weiter richtet, sondern anders auch gegen die christlich-mittelalterliche sowie gegen die modern-idealistische Unendlichkeitsschwärmerei. 

 

Da ist nun Emmanuel Levinas zu nennen, dessen Hauptwerk Totalität und Unendlichkeit. Versuch über die Exteriorität (Freiburg-München 2002) das aristotelische Diktum aufgreift und wendet. Daß es kein Unendliches aktual gebe, wie die Philosophen sagten, sei zunächst einmal ein Defekt des Unendlichen. Oder aber gerade seine positive Charakteristik – nämlich seine Unendlichkeit.[1] Damit ist wohl nicht ein physikalisch Unbegrenztes gemeint, welches von der neueren Physik ohnehin in Frage gestellt wird. 

 

 

 Walter Seitter

Montag, 9. November 2020

Supplement zur Minimalontologie

  Im Zusammenhang mit der Lektüre der aristotelischen Metaphysik von Maximal- und Minimalontologie sprechen, das erscheint befremdlich, weil solche Begriffe im Text gar nicht vorkommen, und textfremde Begriffe sollten in einer solchen Lektüre keinen Platz haben, könnte man meinen. 

 

Dagegen spricht, dass die Lektüre eines Textes immerzu etwas Fremdes dem Text gegenüber ist. Nicht nur dann, aber auch dann, wenn die Lektüre von jemandem durchgeführt wird, der vom Text, vom Entstehen, von den Entstehungen des Textes geographisch und historisch, kulturell und sprachlich so weit entfernt ist, wie das hier der Fall ist. Selbst wenn man die Entstehung des Textes der Metaphysik nicht auf die Stadt Athen und auf das Todesjahr des Aristoteles zurückschiebt, sondern bis in das 1. Jahrhundert vor Christus und bis zur Stadt Rom heranrücken lässt, so liegen immer noch ein paar Jahrtausende und einige andere schwerwiegende Distanzen zwischen ihm und mir. Und auch noch die späteren Jahrhunderte, die vielen Übersetzungen in die vielen anderen Sprachen haben an dem Text, der uns vorliegt, mitgeschrieben. 

 

Eine Lektüre, die gar nichts sagen würde, sondern nur schauen, sich beeindrucken lassen, nur staunen oder bewundern würde, ganz passiv bleiben würde, würde sich auch dann nicht als sinnerfassendes Lesen qualifizieren, wenn sie sich dafür halten würde – dies aber nicht einmal behaupten könnte. 

 

Der lesende Intellekt, der intellektuelle Leser muß sowohl ein passiver wie auch ein aktiver sein. Und als aktiver ein sprechender, der sowohl nachspricht wie auch gegenredet.

Die Rede von Minimalontologie setzt voraus, dass in der Wissenschaft, die im vorliegenden umfangreichen Buch gesucht, gegründet und entfaltet wird, mehrere unterscheidbare Untersuchungsrichtungen erkennbar sind, die jedoch von Aristoteles nicht konsequent benannt und unterschieden werden.

 

Auf diesen Sachverhalt sind wir gestoßen, als im Abschnitt 7 von Buch XI die zwei schon etablierten theoretischen Wissenschaften genannt worden sind und dazu auch die jetzt gerade in Gründung befindliche „Theologie“, der Text aber sofort gemerkt hat, dass diese Benennung nicht ganz passend ist, da sie den allgemeinen Charakter oder die allgemeine Dimension der gesuchten Wissenschaft nicht hinreichend klar zum Ausdruck bringt.

 

Was in dieser Benennung untergeht, wird dann in Abschnitt 8 nachgeholt, aber nicht mit einer zusätzlichen Disziplinbezeichnung, sondern viel drastischer und direkter mit dem Hinweis auf Phänomene, die so ungefähr das konträre Gegenteil zu dem darstellen, was Aristoteles sehr vorsichtig der Theologie zugewiesen hat. Diese Phänomene sind Akzidenzien, die etwas so Minderes, ja „Nicht-Seiendes“ sind, dass es gar keine Wissenschaft davon geben kann – was aber plötzlich „gesehen“ werden soll und dann auch über den Zufall theoretisiert wird. Aber zunächst müsste die supplementäre Untersuchung, die dann noch eine Kurve in Richtung Ethik macht, nur „Nicht-Wissenschaft“ heißen. 

 

Die entsprechende Passage ist ein modulierender Rückgriff auf Abschnitt 2 von Buch VI, auf den ich nun meinerseits zurückgreife, und zwar in komplementärer Weise. Die Unwichtigkeit der Akzidenzien wird dort so statuiert, dass gesagt wird, das Akzidens sei wohl nur ein Name, das heißt kein Begriff, dem etwas Wirkliches und Typisches entspricht (siehe 1026b 14). Und dann entschließt sich der Text zu einer Kompromißformel, die da lautet „Es erscheint das Akzidens als etwas, was dem Nicht-Seienden nahe ist.“ (1026b 22).

 

Eine Kompromißformel, die eigentlich unausweichlich ist, wenn das Vernichtungsurteil zum „Nicht-Seienden“, hinter dem die Autorität Platons und vermutlich einer noch altehrwürdigeren steht, und das Vorurteil gegenüber den Sophisten bereits feststeht, andererseits aber nicht nur die Fülle der bekannten Phänomene, sondern zumindest auch die Textautorität der Kategorienschrift, sowie zahlreicher anderer aristotelischer Schriften, etwa Buch IV der Metaphysik, dagegen steht. 

 

Die „Nähe zum Nicht-Seienden“ sichert den Akzidenzien eine vielleicht noch zumutbare Aufenthaltserlaubnis auf der Seite des Seienden. Aber es ist eine diskriminierende, eine sehr reduzierende, eben eine mindernde Einschätzung. 

 

Die Akzidenzien werden doch nicht brutal und gegen den Augenschein, sogar gegen die Gesetze der Sprache genichtet. Sie werden der Meontologie überanwortet, die wenn es sie geben sollte, immerhin eine Logie wäre, und sogar eine Ontologie, wie sich aus der oben zitierten Stelle 1003b 10 ergibt. 

 

Die Meontologie betrachtet den Grenzstreifen zwischen Seiendem und Nicht-Seiendem und ist daher „nur“ ein Randgebiet der Ontologie. Allerdings nicht irgendein Randgebiet sondern ein konstitutives, der Ontologie. 

 

Dies sage ich, weil ich dem Buch XI folgend auf das Buch VI zurückgreife. Der Rückgriff erweist sich als Fortschritt. Daher gibt es überhaupt das Buch XI und ebenso dies da. 

 

Das Buch VI wurde bekanntlich (oder unbekanntlich) hier auch schon gelesen – am 15. März 2017. Liest man die damalige Lektüre nach, so sieht man, dass damals auch schon einiges gesagt worden ist, wie etwa, dass „die Ontologie einen quasi-demokratischen Akt vollzieht: Rettung der niedrigen Seinsmodalitäten vor der Verstoßung ins Nichts.“[1]

 

Thematisiert Aristoteles die Minimaltendenz in der Ontologie auch direkter? Sehr explizit ist eine Stelle im letzten Buch der Metaphysik, wo es heißt, dass „das Bezügliche von allen Aussageweisen am wenigsten eine Natur oder Wesen ......, am wenigsten ein Wesen und ein Seiendes ist“ (1088a 22ff.). Hier wird innerhalb der Kategorien, ja innerhalb der Akzidenzien ein Minimum ausfindig gemacht – aber ohne Bezug zu einem Nicht-Seienden. 

 

Wenn das Nicht-Seiende als extremer Pol der Minimal-Ontologie angesehen wird, könnten auch andere Seinsmodalitäten dieser Seite zugeschlagen werden: so das Unmögliche, das Unwirkliche, das Unwahrscheinliche; die Bewegung wird von Aristoteles teilweise in diese Nähe gerückt; die Zeit oder einzelne Aspekte davon ebenfalls; und die sogenannte erste Materie. 

 

Das Eigentümliche der aristotelischen Ontologie erfasst man nur, wenn man auch ihren unteren Rand, die Zone der kleinen, der schwierigen und unsicheren Anfänge, die Zone der prekären Übergänge und der mehr oder weniger katastrophischen Untergänge in Betracht zieht. In gewisser Weise bilden die sogenannten wesentlichen Veränderungen, also Entstehen und Vergehen, eine Hauptlinie dieser Zone. 

 

Diese Probleme werden in der modernen Forschung unter dem Titel der „Seinsgrade“ abgehandelt – zu unterscheiden von der Aufstufung der Wesen, welche unter dem Titel der Scala naturae hier am 6. Mai 2020 erwähnt worden ist.[2]

 

Die belarusische Oppositionspolitikerin Swetlana Tichanowskaja hat fernab von jeder Aristoteles-Lektüre ihre Zwischen-Situation zwischen Repression in der Heimat und Prominenz im Ausland kurz und bündig so artikuliert, dass sie genau in die Ontologie-Dimension hineinpasst, die Aristoteles mit den Polen wahr und falsch kennzeichnet und die man als die phänomenische bezeichnen könnte: „Solange man über uns spricht, heißt das, es gibt uns.“[3]

Das griechische Wort für wahr, alethes, situiert sich auf der Minimum-Seite, da es „nur“ das Nicht-Erscheinen negiert. Zum Maximum neigt eher Platon, wenn er sagt, „das Schöne ist das Erscheinendste .....“ (Phaidros 250b)

 

 

Walter Seitter




[1] Siehe Walter Seitter: loc. cit.; 264.

[2] Siehe Art. „Sein“, in: Chr.Rapp, Kl. Corcilius (Hg,): Aristoteles Handbuch. Leben-Werk-Wirkung (Stuttgart 2011): 323ff.

[3] Siehe Swetlana Tichanowskaja: „Lukaschenko macht viele Fehler“, in: Die Presse, 7. November 2020.

Mittwoch, 4. November 2020

In der Metaphysik lesen (1065b 28 – 1066a 34)

  Zunächst antworte ich auf den Kommentar, den Wolfgang Koch zum Protokoll vom 28. Oktober 2020 verfaßt hat und den ich erst heute, am 4. November, bekommen habe. 

 

Einwände zum Protokoll der Sitzung vom 28. Oktober 2020

Zitat:
In dem zuletzt öfter herbeizitierten Anfang von Kap. 10 von Buch IX setzt Aristoteles statt Seiendes als seiendes“ ein: das Seiende und das Nicht-Seiende“. Die Einsetzung erfolgt so, dass man in dieser Formel ein Synonym für die viel häufiger gebrauchte als-Formel sehen darf.

1. Formaler Einwand: »das Seiende und das Nicht-Seiende« ist eine Aufzählung und keine Formel.

2. Formaler Einwand: Eine Formel ist eine prägnante Art, Informationen symbolisch auszudrücken. Keiner der beiden Ausdrücke gibt etwas symbolisch wieder. Beide fassen den Erkenntnisinhalt in nichtrepräsentative Begriffe.

3. Formaler Einwand: »Das Seiende und das Nicht-Seiende« hat keinen Wiederholungscharakter im Text. Es kommt im zitierten Abschnitt genau einmal vor.

4. Textorganisatorischer Einwand: A° leitet in Kap. 10 von IX ein neues Thema ein, in welchem er das Seiende und das Nicht-Seiende hinsichtlich der Wahrheitsfrage prüft. Es gibt keinen besonderen inhaltlichen Zusammenhang zu Abschnitt 4 in Buch VI.

5. Gnoseologischer Einwand: Die Aussage, das »Seiende als seiendes« umfasse »das Seiende und das Nicht-Seiende« setzte A°s im selben Werk dargelegten »Satz vom Widerspruch« (1005b) ausser Kraft, wonach es unmöglich ist, dass etwas zugleich sei und nicht sei.

6. Lesestrategischer Einwand: Der Oberbegriff des Seienden und des Nicht-Seienden lässt sich Sein, oder besser: mit Evidenz im philosophischen Sinn angeben, also Ersichtlichkeit, Gewissheit; ihre Unterbegriffe gibt A° in der Wahrheitsuntersuchung als Zusammenhang und Gestalt an. Wir haben es also nicht allein mit dem im Denken und Urteilen liegenden Wahren zu tun, die ontologische Wahrheit der Dinge (oder die ontische Dimension nach Heidegger) ist die Grundlage für die gnoseologische und logische Wahrheit des Verstehens. Eine exzessiver Ausweitung des Seinsbegriffs, wie sie Seitter in der Seinsphilosophie von Hermann Nitsch noch vor zwei Jahren abgelehnt hat, führt nur zum bekannten Salzburger Schnürlregen (»mehr oder weniger parallele Stränge aus schwächeren und stärkeren sowie verschiedenartigen Seinsmodalitäten«).

Wolfgang Koch

 

 

Wolfgang Koch kritisiert, dass ich den Ausdruck

„das Seiende und das Nicht-Seiende“ als Formel bezeichne. Ich tue das, sofern diese Wörterverbindung in 1051a 34ff. als Subjekt eines Satzes fungiert, der nicht irgendein Satz ist, sondern genau dem Schema des bekannten Standardsatzes  der Ontologie folgt, welcher in 1003a 21ff. vorgeschlagen wird; nämlich: das Seiende wird als x, als y ausgesagt. Daraus ergibt sich eine syntaktische Äquivalenz der beiden Ausdrücke „das Seiende als seiendes“ und „das Seiende und das Nicht-Seiende“. Dazu kommt, dass in 1003b 10 auf der Prädikatseite nach dem Wesen und diversen Akzidenzien ausdrücklich auch die Negation des Wesens eingesetzt wird und dann auch noch der linguistische Befund, das Nicht-Seiende sei das Nicht-Seiende, unterstrichen und damit ontologisiert wird. Zur Erläuterung habe ich für diejenigen, die mit dem Latein besser zurechtkommen, gelegentlich den Heidegger-Satz „Ens qua ens ex nihilo fit.“ zitiert.

 

Die einerseits explikative, andererseits paradoxe Zusammenschiebung von Seiendem und Nicht-Seiendem wird von Aristoteles also bereits im Buch IV, bei der offiziellen Gründung der Ontologie, angestoßen. Im Abschnitt 10 von Buch IX wird sie zur Frage vorangetrieben, wie das Seiende und das Nicht-Seiende wahr oder falsch sein können – ohne dass diese Frage in einer Seinsmystik ihren Abschluß findet. (Da ich die von Wolfgang Koch genannte Hermann-Nitsch-Schrift gar nicht gelesen habe, kann ich dazu überhaupt nichts sagen.) 

 

Mit dem Wahren und dem Falschen wird dem Seienden als  seienden eine weitere polare Dimension eingeschrieben und man muß die Vorstellung aufgeben, die Ontologie beschränke sich auf eine Lehre von den Kategorien oder gar auf eine von den Substanzen. Es handelt sich – jedenfalls bis Buch XI - um eine hinzufügende, eine gliedernde, eine analytische – man könnte sagen: eine prosaische Untersuchung.

 

 

                                *

 

 

 

Spätestens dann, wenn man das Buch XI überhaupt liest und nicht gleich zuschlägt, weil es offensichtlich oder anscheinend nichts Neues enthält (meine Reclam-Ausgabe gibt zu den 12 Abschnitten des Buches mindestens ebenso viele Abschnitte aus früheren Büchern der Metaphysik und Physik an, die da wiederholt oder abgewandelt werden), spätestens dann muß man sich und kann man sich einen Überblick über die Themenstränge der Bücher I bis X verschaffen, die ja in Buch XI aufgegriffen und durch neue Zusammenstellungen neu gesichtet und geordnet werden. 

 

 

Insgesamt geht es um die Gründung einer neuen Wissenschaft, die im Klassifikationssystem der bereits bekannten Wissenschaften einen bestimmten Platz einnehmen soll. Nämlich als „dritte“ theoretische Wissenschaft nach Physik und Mathematik. Und neben den logischen, den poietischen und den praktischen Wissenschaften, die in die Neugründung stärker einfließen als Aristoteles kundtut. 

 

Diese „gesuchte“ Wissenschaft wird im Buch XI wieder einmal als „Theologie“ bezeichnet und gleichzeitig merkt Aristoteles, dass er sich damit schon in eine Aporie verstrickt hat, denn diese Wissenschaft soll selber eine allgemeine sein, eine so allgemeine, dass sie nicht nur ein höchstes Seiendes, wenn es ein solches gibt, sondern vor allem die sozusagen mittleren Seinsstufen, die es zweifellos gibt, betrachten soll. Die mittleren bis hinunter zu den niedrigsten, ja sogar bis zu den Nicht-Seienden, sofern sie irgendwie doch sind: Doch-Seiende. Also bis zum Ineinander oder Gegeneinander von Seiendem und Nicht-Seiendem. Bis zur „Meontologie“. Dieser Begriff ist erst am Ende des 19. Jahrhunderts im Gefolge der Brentano-Schule entstanden und er ist seinerseits ein Folgebegriff der Ontologie, die im 17. Jahrhundert als Untersuchungsrichtung so genannt worden ist.

 

 

 

 

 

 

 

 

Die Aufstufung Vermögen-Verwirklichung-Vollendung bildet eine Dimension, die neben der kategorialen (aus Wesen und Akzidenzien) ihren Platz hat, sozusagen „lateral“ installiert ist, wirft die zusätzliche und schwerwiegende Frage auf, ob die seit dem Buch I „gesuchte Wissenschaft“ tatsächlich auf die Linie einer „theoretischen Wissenschaft“ festgelegt werden kann bzw. muß. Die Ausführungen zum Hausbau entstammen ja einer poietischen Wissenschaft, die ein Wissen formulieren will, das eine menschliche Zielorientierung und –realisierung befördern soll. 

 

Weiter oben, in 1064b 19ff., wurde das Thema Hausbau bereits eingeführt. Und zwar nur zu dem Zweck, um bestimmte Akzidenzien, nämlich die Traurigkeit oder Fröhlichkeit der Bewohner, aus der Wissenschaft auszuschließen, da sie – laut Platon - nur „Nicht-Seiendes“ seien. Allerdings macht Aristoteles, der zunächst dieser Einschätzung zustimmt, da sofort eine scharfe Wendung, und will „versuchen zu sehen, was eigentlich das Akzidens ist“. Zuerst Ausschluß eines Nicht-Seienden aus jeder Wissenschaft und jetzt plötzliche Zuwendung zu eben demselben, das sogar sichtbar sein soll. Offensichtlich wieder eine Ineinanderschiebung von Nicht-Seiendem und – von was? Vielleicht von einem Doch-Seienden? Das „Doch-Seiende“ – das wäre ein Seiendes ganz in der Nähe von Nicht-Seiendem, das sich mit seinem „doch“ aus dem „nicht“ herausreißt.[1]

 

Und ebenso eine plötzliche Wendung von (Nicht)Wissenschaft zu Sehen-Wollen. Eine bedeutsame erkenntnistechnische, ja erkenntnispolitische Wendung. Kaum zu glauben, dass in diesem berühmten Aristoteles-Buch, in dem doch alles längst klar zu sein scheint, so eine Wendung Platz hat und Platz greift.

 

Und was wird da gesehen, wenn gesehen wird, was das Akzidens eigentlich ist? 

 

Es wird gesehen, dass das Akzidens ein Geschehen ist, das nur ausnahmsweise passiert, das sich rar macht – denn seine Ursachen sind unbestimmt, ungeordnet, unbegrenzt. Sie heißen Zufall, entweder tychischer oder spontaner Zufall. 

 

Dazu eine kleine Kalendernotiz des Sylter Künstlers Siegward Sprotte (1913-2004), den ich seit 1980 gekannt habe:

 

„Wo der Zufall abnimmt, nimmt der Abfall zu

 

In einer Welt, in der es zur Ausnahme geworden ist, dass wir dem Zufall zufallen, wo uns der Zufall wie eine Zufälligkeit vorkommt, da ist es zur Regel geworden, dass die Abfälle zunehmend unsterblicher werden, sodass die Unsterblichkeit die Sterblichkeit des bildenden Lebens bedroht und infrage stellt.“

 

(21. 01. 1989)

 

Diese Worte deuten an, dass der Zufall, der auf „niedrigstem“ Niveau der Ordnung des Faktischen angehört, einen direkten Übergang vom Deskriptiven zum Optativen oder gar Normativen impliziert. 

 

Der Abschnitt 8 des Buches IX, der von den Akzidenzien ausgeht, die beim Hausbau anfallen, aus der Wissenschaft jedoch angeblich herausfallen, dann aber doch einem Sehen zugänglich sind, will zeigen, dass diese Akzidenzien dem Bereich angehören, wo von Gutem oder Schlechtem, von Glück oder Unglück die Rede ist. Einem Bereich, für den nicht eigentlich das theoretische Betrachten zuständig ist. 

 

Ein Bereich, für den ebenfalls das theoretische Betrachten nicht allein zuständig sein dürfte, wird von Aristoteles folgendermaßen umrissen: „das Vermögen, gesund zu sein, und das Vermögen, krank zu sein, sind nicht dasselbe, sonst müsste nämlich Gesundsein und Kranksein dasselbe sein; aber das Substrat, das sowohl gesund als auch krank ist, sei es die Feuchtigkeit oder das Blut, ist dasselbe.“ (1065b 28ff.)

 

Dieses Thema wird von Aristoteles zumeist einer poietischen Wissenschaft, der Heilkunde, zugewiesen. Hier wird es sozusagen noch davor, auf der Ebene der eigenen Befindlichkeit, besprochen und da könnte es der praktischen Wissenschaft zugeordnet werden, die erfreuliche von unerfreulichen Zuständen unterscheidet. Den beiden genannten Vermögen entsprechen die Bewegungen zum Gesundsein und zum Kranksein, die wiederum als zwei entgegengesetzte Vollendungen aufzufassen wären – alles das unter der Voraussetzung, dass es „nicht egal ist“, welche Bewegung, welche Vollendung wirklich ist. Diese „Nicht-Egalität“ ist eine „praktische“, die zwischen gut und schlecht unterscheidet und nicht bloß zwischen einer solchen Beschaffenheit und einer anderen.

 

Aristoteles’ Interesse gilt der speziellen Seinsmodalität der Bewegung (Veränderung) überhaupt, die immer eine Verwirklichung ist, aber eine andere Verwirklichung als das Resultat der Bewegung, welches eher als Vollendung zu bezeichnen ist. 

 

Die Bewegung als solche scheint schwierig zu bestimmen, weil sie jeweils zwischen zwei Modalitäten, zwischen Vermögen und Verwirklichung zu liegen scheint, und keines von beiden bewegt sich notwendigerweise. Deshalb haben einige – die Pythagoreer und Platoniker - versucht, sie unter einen anderen Oberbegriff wie Verschiedenheit, Ungleichheit, Nicht-Seiendes zu stellen. Aber keine dieser Gattungen ist notwendigerweise mit Bewegung verbunden. 

 

Bewegung scheint eine Art Zwischenphase zwischen angebbaren Bestimmungen zu sein und so greift Aristoteles zu einer sehr paradoxen, ja unmöglichen Formulierung, die dem Sichersten Prinzip, dem sogenannten Satz vom ausgeschlossenen Widerspruch, direkt widerspricht: „Bewegung ist Verwirklichung und Nicht-Verwirklichung – wie bereits abgehandelt“ (1066a 25).

 

Wie bereits wo abgehandelt? Etwa in den wenigen Ontologie-Programm-Erklärungen, die das Seiende und das Nicht-Seiende zusammen- oder ineinanderschieben, um das „als“ des Seienden als seienden zu explizieren, das keineswegs selbstwidersprüchlich ist – wohl aber „schwer zu sehen, doch imstande zu sein.“ ? (1066a 26) Doch-Seiendes.

 

Eher wohl am Anfang von Abschnitt 9 sowie in Phys. 201a 27 – 202a 3.

 

Und ein neuerlicher Anlauf zum Sehen und Artikulieren. Ein Artikulieren, das genau dieselben Wörter verwendet, wie sie in diesem Abschnitt schon ziemlich oft vorgekommen sind.

 

Aktiv- und Passiv-Bewegung, Aktiv- und Passiv-Fähigkeit, kommen in einer Verwirklichung und in einer Vollendung zusammen. Der Rückweg ist derselbe wie der Hinweg – aber ihr Sein ist nicht eines. 

 

Der Rückgang ist auch ein Weitergang. Das weiß jeder Spaziergänger, dass er, wenn er unfähig wäre, weiterzugehen, den Rückweg nicht durchführen könnte. Wenn Aristoteles nicht die vielen und umfangreichen Rückgriffe auf frühere Bücher machen würde, dann würde dieses Buch XI, so wie es ist, nicht zustande kommen. Es würde ausfallen und die Metaphysik wäre um dieses Buch kürzer. So haben die Rückgriffe dieses Weiterschreiben ermöglicht und den Lesern ein bestimmtes Weiterlesen vorgeschrieben. Das Weiterlesen wird gewissermaßen zu einem Wiederlesen und diese Überlagerung von Wieder und Weiter erzeugt eine Textstruktur, für die die Linguisten vielleicht schon einen Begriff gefunden haben.

  

Walter Seitter


[1] In VI, 1026b 22 heißt es sogar ausdrücklich, dass das Akzidens dem Nicht-Seienden nahe ist.