Zunächst
antworte ich auf den Kommentar, den Wolfgang Koch zum Protokoll vom 28. Oktober
2020 verfaßt hat und den ich erst heute, am 4. November, bekommen habe.
Einwände
zum Protokoll der Sitzung vom 28. Oktober 2020
Zitat:
In dem zuletzt öfter herbeizitierten Anfang von Kap. 10 von Buch IX setzt
Aristoteles statt Seiendes als seiendes“ ein: das Seiende und das
Nicht-Seiende“. Die Einsetzung erfolgt so, dass man in dieser Formel ein
Synonym für die viel häufiger gebrauchte als-Formel sehen darf.
1. Formaler Einwand: »das Seiende und das Nicht-Seiende« ist eine Aufzählung
und keine Formel.
2. Formaler Einwand: Eine Formel ist eine prägnante Art, Informationen
symbolisch auszudrücken. Keiner der beiden Ausdrücke gibt etwas symbolisch
wieder. Beide fassen den Erkenntnisinhalt in nichtrepräsentative Begriffe.
3. Formaler Einwand: »Das Seiende und das Nicht-Seiende« hat keinen
Wiederholungscharakter im Text. Es kommt im zitierten Abschnitt genau einmal
vor.
4. Textorganisatorischer Einwand: A° leitet in Kap. 10 von IX ein neues Thema
ein, in welchem er das Seiende und das Nicht-Seiende hinsichtlich der
Wahrheitsfrage prüft. Es gibt keinen besonderen inhaltlichen Zusammenhang zu
Abschnitt 4 in Buch VI.
5. Gnoseologischer Einwand: Die Aussage, das »Seiende als seiendes« umfasse
»das Seiende und das Nicht-Seiende« setzte A°s im selben Werk dargelegten »Satz
vom Widerspruch« (1005b) ausser Kraft, wonach es unmöglich ist, dass etwas
zugleich sei und nicht sei.
6. Lesestrategischer Einwand: Der Oberbegriff des Seienden und des
Nicht-Seienden lässt sich Sein, oder besser: mit Evidenz im philosophischen
Sinn angeben, also Ersichtlichkeit, Gewissheit; ihre Unterbegriffe gibt A° in
der Wahrheitsuntersuchung als Zusammenhang und Gestalt an. Wir haben es also
nicht allein mit dem im Denken und Urteilen liegenden Wahren zu tun, die
ontologische Wahrheit der Dinge (oder die ontische Dimension nach Heidegger)
ist die Grundlage für die gnoseologische und logische Wahrheit des Verstehens.
Eine exzessiver Ausweitung des Seinsbegriffs, wie sie Seitter in der
Seinsphilosophie von Hermann Nitsch noch vor zwei Jahren abgelehnt hat, führt
nur zum bekannten Salzburger Schnürlregen (»mehr oder weniger parallele Stränge
aus schwächeren und stärkeren sowie verschiedenartigen Seinsmodalitäten«).
Wolfgang Koch
Wolfgang
Koch kritisiert, dass ich den Ausdruck
„das
Seiende und das Nicht-Seiende“ als Formel bezeichne. Ich tue das, sofern
diese Wörterverbindung in 1051a 34ff. als Subjekt eines Satzes fungiert,
der nicht irgendein Satz ist, sondern genau dem Schema des
bekannten Standardsatzes der Ontologie folgt, welcher in 1003a 21ff.
vorgeschlagen wird; nämlich: das Seiende wird als x, als y ausgesagt.
Daraus ergibt sich eine syntaktische Äquivalenz der beiden Ausdrücke „das Seiende
als seiendes“ und „das Seiende und das Nicht-Seiende“. Dazu kommt, dass in 1003b
10 auf der Prädikatseite nach dem Wesen und diversen Akzidenzien
ausdrücklich auch die Negation des Wesens eingesetzt wird und dann auch noch
der linguistische Befund, das Nicht-Seiende sei das
Nicht-Seiende, unterstrichen und damit ontologisiert wird. Zur Erläuterung habe
ich für diejenigen, die mit dem Latein besser zurechtkommen, gelegentlich den
Heidegger-Satz „Ens qua ens ex nihilo fit.“ zitiert.
Die
einerseits explikative, andererseits paradoxe Zusammenschiebung von Seiendem
und Nicht-Seiendem wird von Aristoteles also bereits im Buch IV, bei der
offiziellen Gründung der Ontologie, angestoßen. Im Abschnitt 10 von Buch IX
wird sie zur Frage vorangetrieben, wie das Seiende und das Nicht-Seiende wahr
oder falsch sein können – ohne dass diese Frage in einer Seinsmystik ihren
Abschluß findet. (Da ich die von Wolfgang Koch genannte Hermann-Nitsch-Schrift
gar nicht gelesen habe, kann ich dazu überhaupt nichts sagen.)
Mit
dem Wahren und dem Falschen wird dem Seienden als seienden eine
weitere polare Dimension eingeschrieben und man muß die Vorstellung aufgeben,
die Ontologie beschränke sich auf eine Lehre von den Kategorien oder gar auf
eine von den Substanzen. Es handelt sich – jedenfalls bis Buch XI - um
eine hinzufügende, eine gliedernde, eine analytische – man könnte sagen:
eine prosaische Untersuchung.
*
Spätestens
dann, wenn man das Buch XI überhaupt liest und nicht gleich zuschlägt, weil es
offensichtlich oder anscheinend nichts Neues enthält (meine Reclam-Ausgabe
gibt zu den 12 Abschnitten des Buches mindestens ebenso viele Abschnitte aus
früheren Büchern der Metaphysik und Physik an,
die da wiederholt oder abgewandelt werden), spätestens dann muß man sich und kann
man sich einen Überblick über die Themenstränge der Bücher I bis X verschaffen,
die ja in Buch XI aufgegriffen und durch neue Zusammenstellungen neu gesichtet
und geordnet werden.
Insgesamt
geht es um die Gründung einer neuen Wissenschaft, die im Klassifikationssystem
der bereits bekannten Wissenschaften einen bestimmten Platz einnehmen soll.
Nämlich als „dritte“ theoretische Wissenschaft nach Physik und Mathematik. Und
neben den logischen, den poietischen und den praktischen Wissenschaften, die in
die Neugründung stärker einfließen als Aristoteles kundtut.
Diese
„gesuchte“ Wissenschaft wird im Buch XI wieder einmal als „Theologie“
bezeichnet und gleichzeitig merkt Aristoteles, dass er sich damit schon in eine
Aporie verstrickt hat, denn diese Wissenschaft soll selber eine allgemeine
sein, eine so allgemeine, dass sie nicht nur ein höchstes Seiendes, wenn es ein
solches gibt, sondern vor allem die sozusagen mittleren Seinsstufen, die es
zweifellos gibt, betrachten soll. Die mittleren bis hinunter zu den
niedrigsten, ja sogar bis zu den Nicht-Seienden, sofern sie irgendwie doch
sind: Doch-Seiende. Also bis zum Ineinander oder Gegeneinander von Seiendem und
Nicht-Seiendem. Bis zur „Meontologie“. Dieser Begriff ist erst am Ende des 19.
Jahrhunderts im Gefolge der Brentano-Schule entstanden und er ist seinerseits
ein Folgebegriff der Ontologie, die im 17. Jahrhundert als
Untersuchungsrichtung so genannt worden ist.
Die
Aufstufung Vermögen-Verwirklichung-Vollendung bildet eine Dimension, die neben
der kategorialen (aus Wesen und Akzidenzien) ihren Platz hat, sozusagen
„lateral“ installiert ist, wirft die zusätzliche und schwerwiegende Frage
auf, ob die seit dem Buch I „gesuchte Wissenschaft“ tatsächlich auf die Linie
einer „theoretischen Wissenschaft“ festgelegt werden kann bzw. muß. Die
Ausführungen zum Hausbau entstammen ja einer poietischen Wissenschaft, die ein
Wissen formulieren will, das eine menschliche Zielorientierung und
–realisierung befördern soll.
Weiter
oben, in 1064b 19ff., wurde das Thema Hausbau bereits eingeführt. Und zwar nur
zu dem Zweck, um bestimmte Akzidenzien, nämlich die Traurigkeit oder
Fröhlichkeit der Bewohner, aus der Wissenschaft auszuschließen, da sie – laut
Platon - nur „Nicht-Seiendes“ seien. Allerdings macht Aristoteles, der
zunächst dieser Einschätzung zustimmt, da sofort eine scharfe Wendung, und
will „versuchen zu sehen, was eigentlich das Akzidens ist“. Zuerst Ausschluß
eines Nicht-Seienden aus jeder Wissenschaft und jetzt plötzliche Zuwendung
zu eben demselben, das sogar sichtbar sein soll. Offensichtlich wieder eine
Ineinanderschiebung von Nicht-Seiendem und – von was? Vielleicht von einem
Doch-Seienden? Das „Doch-Seiende“ – das wäre ein Seiendes ganz in der Nähe von
Nicht-Seiendem, das sich mit seinem „doch“ aus dem „nicht“ herausreißt.[1]
Und
ebenso eine plötzliche Wendung von (Nicht)Wissenschaft zu Sehen-Wollen. Eine
bedeutsame erkenntnistechnische, ja erkenntnispolitische Wendung. Kaum zu
glauben, dass in diesem berühmten Aristoteles-Buch, in dem doch alles längst
klar zu sein scheint, so eine Wendung Platz hat und Platz greift.
Und
was wird da gesehen, wenn gesehen wird, was das Akzidens eigentlich ist?
Es
wird gesehen, dass das Akzidens ein Geschehen ist, das nur ausnahmsweise
passiert, das sich rar macht – denn seine Ursachen sind unbestimmt, ungeordnet,
unbegrenzt. Sie heißen Zufall, entweder tychischer oder spontaner Zufall.
Dazu
eine kleine Kalendernotiz des Sylter Künstlers Siegward Sprotte (1913-2004),
den ich seit 1980 gekannt habe:
„Wo
der Zufall abnimmt, nimmt der Abfall zu
In
einer Welt, in der es zur Ausnahme geworden ist, dass wir dem Zufall zufallen,
wo uns der Zufall wie eine Zufälligkeit vorkommt, da ist es zur Regel geworden,
dass die Abfälle zunehmend unsterblicher werden, sodass die Unsterblichkeit die
Sterblichkeit des bildenden Lebens bedroht und infrage stellt.“
(21.
01. 1989)
Diese
Worte deuten an, dass der Zufall, der auf „niedrigstem“ Niveau der Ordnung des
Faktischen angehört, einen direkten Übergang vom Deskriptiven zum Optativen
oder gar Normativen impliziert.
Der Abschnitt
8 des Buches IX, der von den Akzidenzien ausgeht, die beim Hausbau anfallen,
aus der Wissenschaft jedoch angeblich herausfallen, dann aber doch einem Sehen
zugänglich sind, will zeigen, dass diese Akzidenzien dem Bereich angehören, wo
von Gutem oder Schlechtem, von Glück oder Unglück die Rede ist. Einem Bereich,
für den nicht eigentlich das theoretische Betrachten zuständig ist.
Ein
Bereich, für den ebenfalls das theoretische Betrachten nicht allein zuständig
sein dürfte, wird von Aristoteles folgendermaßen umrissen: „das Vermögen,
gesund zu sein, und das Vermögen, krank zu sein, sind nicht dasselbe,
sonst müsste nämlich Gesundsein und Kranksein dasselbe sein; aber das
Substrat, das sowohl gesund als auch krank ist, sei es die Feuchtigkeit oder
das Blut, ist dasselbe.“ (1065b 28ff.)
Dieses
Thema wird von Aristoteles zumeist einer poietischen Wissenschaft, der
Heilkunde, zugewiesen. Hier wird es sozusagen noch davor, auf der Ebene der
eigenen Befindlichkeit, besprochen und da könnte es der praktischen Wissenschaft
zugeordnet werden, die erfreuliche von unerfreulichen Zuständen unterscheidet.
Den beiden genannten Vermögen entsprechen die Bewegungen zum Gesundsein
und zum Kranksein, die wiederum als zwei entgegengesetzte Vollendungen
aufzufassen wären – alles das unter der Voraussetzung, dass es „nicht egal
ist“, welche Bewegung, welche Vollendung wirklich ist. Diese „Nicht-Egalität“
ist eine „praktische“, die zwischen gut und schlecht unterscheidet und nicht
bloß zwischen einer solchen Beschaffenheit und einer anderen.
Aristoteles’
Interesse gilt der speziellen Seinsmodalität der Bewegung (Veränderung)
überhaupt, die immer eine Verwirklichung ist, aber eine andere Verwirklichung
als das Resultat der Bewegung, welches eher als Vollendung zu bezeichnen
ist.
Die
Bewegung als solche scheint schwierig zu bestimmen, weil sie jeweils zwischen
zwei Modalitäten, zwischen Vermögen und Verwirklichung zu liegen scheint, und
keines von beiden bewegt sich notwendigerweise. Deshalb haben einige – die
Pythagoreer und Platoniker - versucht, sie unter einen anderen
Oberbegriff wie Verschiedenheit, Ungleichheit, Nicht-Seiendes zu stellen.
Aber keine dieser Gattungen ist notwendigerweise mit Bewegung verbunden.
Bewegung
scheint eine Art Zwischenphase zwischen angebbaren Bestimmungen zu sein und so
greift Aristoteles zu einer sehr paradoxen, ja unmöglichen Formulierung, die
dem Sichersten Prinzip, dem sogenannten Satz vom ausgeschlossenen Widerspruch,
direkt widerspricht: „Bewegung ist Verwirklichung und Nicht-Verwirklichung –
wie bereits abgehandelt“ (1066a 25).
Wie
bereits wo abgehandelt? Etwa in den wenigen Ontologie-Programm-Erklärungen, die
das Seiende und das Nicht-Seiende zusammen- oder ineinanderschieben, um das
„als“ des Seienden als seienden zu explizieren, das keineswegs
selbstwidersprüchlich ist – wohl aber „schwer zu sehen, doch imstande zu sein.“
? (1066a 26) Doch-Seiendes.
Eher
wohl am Anfang von Abschnitt 9 sowie in Phys. 201a 27 – 202a 3.
Und
ein neuerlicher Anlauf zum Sehen und Artikulieren. Ein Artikulieren, das genau
dieselben Wörter verwendet, wie sie in diesem Abschnitt schon ziemlich oft
vorgekommen sind.
Aktiv-
und Passiv-Bewegung, Aktiv- und Passiv-Fähigkeit, kommen in einer
Verwirklichung und in einer Vollendung zusammen. Der Rückweg ist derselbe wie
der Hinweg – aber ihr Sein ist nicht eines.
Der
Rückgang ist auch ein Weitergang. Das weiß jeder Spaziergänger, dass er, wenn
er unfähig wäre, weiterzugehen, den Rückweg nicht durchführen könnte. Wenn
Aristoteles nicht die vielen und umfangreichen Rückgriffe auf frühere Bücher
machen würde, dann würde dieses Buch XI, so wie es ist, nicht zustande kommen.
Es würde ausfallen und die Metaphysik wäre um dieses Buch kürzer. So haben die
Rückgriffe dieses Weiterschreiben ermöglicht und den Lesern ein bestimmtes
Weiterlesen vorgeschrieben. Das Weiterlesen wird gewissermaßen zu einem
Wiederlesen und diese Überlagerung von Wieder und Weiter erzeugt eine
Textstruktur, für die die Linguisten vielleicht schon einen Begriff gefunden
haben.
Walter
Seitter
[1] In
VI, 1026b 22 heißt es sogar ausdrücklich, dass das Akzidens dem Nicht-Seienden
nahe ist.